Wörlitzer Erklärung
Zum Abschluss seiner zweitägigen Klausurtagung in Wörlitz hat der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute die folgende „Wörlitzer Erklärung“ verabschiedet:
Im Jahr Drei nach der von Schwarz-Gelb 2009 ausgerufenen „geistig-politischen Wende“ steht die CDU/CSU-FDP-Koalition vor einem Scherbenhaufen: In der Europa- und Außenpolitik hat sich diese Regierung in vielen Fragen von unseren europäischen Partnern isoliert und setzt auf das alleinige Druckmittel des Stärkeren. Während die soziale Spaltung weiter zunimmt, schönt die Regierung Merkel durch statistische Rechentricks die Arbeitsmarktzahlen und verspricht Vermögenden zusätzliche steuerliche Entlastungen. In der Klimapolitik hat Deutschland unter Schwarz-Gelb seine ambitionierte Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel aufgegeben, die 2011 groß angekündigte Energiewende ist de facto abgesagt. Schwarz-Gelb steht für eine Relativierung der Gefahren des Rechtsextremismus durch ein Extremismusverständnis, das radikale Kräfte ? gleich welcher Herkunft und Couleur ? über einen Kamm schert und damit eine Stimmung gutheißt, in der es alltäglich scheint, dass auch Sicherheitsbeamte auf dem rechten Auge blind sind. Schaut man auf die politische Kultur, die Schwarz-Gelb in den vergangenen Jahren etabliert hat, kann es einen nur grausen: Die FDP führt inzwischen täglich und vor großem Publikum den eigenen Zerrüttungsgrad vor, während der Union die eigene Orientierung und der politische Kompass verloren gegangen sind. Die einzigen Prinzipien, für die diese koalitionäre Chaostruppe noch steht, sind Machterhalt, Postengeschacher und die Angst vor dem Abgrund. Und über all dem schwebt jenseits der Realität im Schloss Bellevue ein von Angela Merkel nach reinem Machtkalkül vorgeschlagenes Staatsoberhaupt, das sich der Würde und Verantwortung seines Amtes nicht bewusst ist und zu dessen Zerfall beiträgt. Mit jedem „Befreiungsschlag“ manövriert sich Bundespräsident Wulff immer tiefer in die Krise und wirft dabei neue Fragen auf, statt sie zu beantworten.
Schwarz-Gelb hat die Menschen gegen sich aufgebracht und sie scharenweise auf die Straße getrieben. Schwarz-Gelb entfremdet die Bürgerinnen und Bürger immer weiter von der Politik, anstatt Politik gemeinsam mit ihnen zu gestalten. Schwarz-Gelb steigert die Politik- und auch die Parteienverdrossenheit und ist für viele Bürgerinnen und Bürger längst nur noch eine Katastrophe. So ist kein Staat zu machen, Schwarz-Gelb schadet diesem Land.
2012 stehen wichtige Entscheidungen an, ist entschlossenes Handeln auf der Grundlage von Werten und einem klaren Kompass gefragt. Eine träge, im Nebel stochernde Regierung, die sich vor allem mit sich selbst beschäftigt, kann sich unser Land nicht länger leisten. Denn gerade in Krisenzeiten erwarten die Menschen, dass die Politik Antworten liefert.
Unsere grüne Antwort auf die drängenden Fragen ist eine gerechte, ökologische und demokratische Politik. Das werden wir 2012 der schwarz-gelben Sprachlosigkeit gegenüberstellen.
Europas Handlungsfähigkeit zurück gewinnen
Ein weiteres Jahr der Handlungsunfähigkeit und Uneinigkeit wie 2011 führt die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten in die finanz- und sozialpolitische Katastrophe. Wenn nun nicht endlich konsequent Kurs hin zu mehr Europa, statt immer weniger gehalten wird und die Weichen für ein Europa der Solidarität, des nachhaltigen Wachstums und der Demokratie gestellt werden, werden wir die Europäische Union nicht retten können. Doch bis heute glaubt die deutsche Bundesregierung, dass alleine die Staatsschulden die Ursache für die gegenwärtige Krise seien.
Sie verhindert so notwendige Maßnahmen wie eine harte Bankenregulierung, gemeinsame europäische Anleihen und gezielte Investitionen in den Krisenländern. Mit einem Wachstumsbegriff, wie ihn FDP-Chef Rösler formuliert und der die seit nunmehr 40 Jahren geführten Debatten um nachhaltige Wertschöpfung schlicht ignoriert, gefährdet Schwarz-Gelb die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Wir brauchen eine neue Idee von Europa, die mehr ist als nur ein gemeinsamer Absatzmarkt für die jeweils eigenen Produkte. Wir brauchen endlich den Kurswechsel hin zu einer Wirtschafts- und Solidarunion, in der sich die einzelnen Mitgliedsstaaten als gegenseitige Stützen und Sicherheiten verstehen, nicht als bloße Marktplätze. Nur dann wird es möglich sein, die Verschuldung in der gesamten Eurozone einerseits abzubauen, und andererseits das begonnene Abrutschen immer weiterer EU-Mitgliedsstaaten in die Rezession und damit in steigende Arbeitslosigkeit und Armut. Dazu gehören auch die wirksame Kontrolle der Europäischen Finanzmärkte und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Merkel nun endlich zusammen mit den anderen Euro-Staaten und gegen die Widerstände aus der FDP einführen muss. Außerdem braucht es ein Europäisches Aufbauprogramm im Sinne eines europäischen Green New Deal, mit dem wir die Grundlage für die soziale und ökologische Transformation der Wirtschaft schaffen wollen.
Die Staaten Europas müssen sich ihrer Verantwortung als globaler Akteur bewusst werden und mit einer gemeinsamen Politik, die auf Werten wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte beruht, die eigenen Einflussmöglichkeiten nutzen. Dieser Einfluss wäre nötig bei der Unterstützung der Umbruchstaaten in Nordafrika, bei der Frage nach einem internationalen Klimaabkommen oder auch in den eigenen Reihen, wenn wie in Ungarn demokratische Prinzipien von einer außer Rand und Band geratenen Regierung mit Füßen getreten werden.
Energiewende und Klimaschutz voranbringen
Der 2011 beschlossene Atomausstieg war ein wichtiger Meilenstein in der Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik. Doch mit dem Atomausstieg allein ist die Energiewende noch nicht geschafft. Der Ausstieg aus der Hochrisikotechnologie Atom darf nicht den Einstieg in mehr Kohlekraft bedeuten, sondern es muss stattdessen massiv in die Erneuerbaren investiert werden. Doch leider haben sich unsere Befürchtungen bestätigt, dass die schwarz-gelbe Koalition weder den Willen noch die Kraft hat, die Energiewende hin zu 100 Prozent Erneuerbaren wirklich voranzubringen. Einen Masterplan zur „Energiewende“ bleibt die Bundesregierung weiterhin schuldig, genauso wie eine glaubwürdige, bundesweit offene und nach wissenschaftlichen Kriterien geführte Suche nach einem geeigneten Ort für die gefährlichen Hinterlassenschaften des Atomzeitalters: den hochradioaktiven Müll aus den bundesdeutschen Atomkraftwerken. Dabei ist Gorleben keine Option, da der Standort politisch verbrannt und nach unserem Ermessen geologisch ungeeignet ist.
Zum Thema Netzumbau fällt Schwarz-Gelb lediglich ein, die Planungsverfahren durch weniger Bürgerbeteiligung zu „beschleunigen“.
Über Energieeffizienz wird viel geredet, nur kosten darf es nichts. Das zeigt das Beispiel energetische Gebäudesanierung, wo Schwarz-Gelb die Kosten zu einem Großteil den Ländern aufdrücken möchte. Das ist nicht nur verlogen, sondern auch klima- und wirtschaftspolitisch kurzsichtig.
Gerade in der Energieeffizienz liegt das größte Potential, unseren Energieverbrauchskosten und den CO2-Ausstoß schnell und drastisch zu reduzieren. Gleichzeitig profitieren viele Handwerksbetriebe und innovative Energieunternehmen. Nach jüngsten Berechnungen würde dadurch allein bis 2020 ein zusätzliches Einsparpotential von 53 Milliarden Euro bei Unternehmen und privaten Haushalten freigesetzt, das dann anders investiert werden könnte.
Lange noch nicht ausgeschöpft sind auch die Möglichkeiten der Erneuerbaren Energien. Derzeit herrscht in den Häfen von Nord- und Ostsee an vielen Stellen Aufbruchstimmung, reichen die vorhandenen logistischen Kapazitäten nicht mehr aus, um die geplanten Offshore-Anlagen zu bauen und zu unterhalten. Doch diese Investitionen werden durch den mangelnden oder gar fehlenden Anschluss an das Überlandleitungsnetz ausgebremst.
Schwarz-Gelb droht gegenwärtig nicht nur die einmalige Chance auf den Beweis zu verspielen, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt die Energiewende technisch, wirtschaftlich und sozial leisten kann. Mit ihrer halbherzigen Politik untergräbt sie außerdem die Bemühungen um ein international verbindliches und ambitioniertes CO2-Reduktionsziel. Dies ist umso verheerender, als die UN-Klimakonferenz in Durban einmal mehr gezeigt hat, wie die entscheidenden Akteure sich gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben, um einen verbindlichen Vertrag zu umgehen und somit nicht selbst handeln zu müssen. Die Leidtragenden sind vor allem die Menschen in den wirtschaftlich armen Ländern, die schon heute unter den Auswirkungen des Klimawandels massiv leiden. Deshalb muss die Europäische Union gemeinsam mit Verbündeten voran gehen und mit einem eigenen CO2-Minderungsziel von 30 Prozent und einer ambitionierten Klima- und Erbeuerbare-Energien-Politik ohne Atom und Kohle eine Sogkraft für weitere Klimaverhandlungen entwickeln.
Die Gesellschaft gerecht machen ? Öffentliche Institutionen stärken
Die schwarz-gelbe Bundesregierung betreibt eine Politik der Ausgrenzung.
Trotz wachsendem Niedriglohnsektor mit einem hohen Frauenanteil verweigert sie sich immer noch einem flächendeckenden Mindestlohn. Dabei arbeitet heute schon mehr als jede/r fünfte vollzeitbeschäftigte ArbeitnehmerIn im Niedriglohnbereich. 2009 erhielten 3,6 Mio.
Beschäftigte in Deutschland weniger als 7 Euro brutto pro Stunde. Rund 1,2 Mio. bekamen sogar einen Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Diese Entwertung von Arbeit mit katastrophalen Folgen für die Betroffenen und ihre Familien nimmt die Bundesregierung willentlich hin. Sie zeigt damit auf unverhohlene Art und Weise, dass ihr die Voraussetzungen für die Freiheit, die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen und damit die Würde und die Handlungsfähigeit der Menschen, die gesunde Entwicklung von Kindern und das Gemeinwohl gleichgültig sind. Nicht von ungefähr kommt, dass laut aktuellem Armutsbericht zwölf Millionen Menschen hierzulande armutsgefährdet sind.
Wir stellen dieser Politik der Ausgrenzung eine Politik der Inklusion entgegen. Unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter, Behinderung oder sexueller Identität geht es um das gleiche Recht, nicht sozial an den Rand gedrängt zu werden und am demokratischen Leben teilzunehmen. Es geht um die Freiheit der Menschen, mit Unterstützung der Solidargemeinschaft die gleichen Lebenschancen zu haben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Neben der Garantie für eine existenzsichernde Grundsicherung, für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, einen gleichberechtigten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem braucht es insbesondere eine Stärkung und Verbesserung der öffentlichen Institutionen, statt die weitere Privatisierung sozialer Risiken, wie Schwarz-Gelb es etwa bei der Pflegereform plant.
Ein Betreuungsgeld, wie es die CSU fordert, ein bürokratisches Bildungspaket und ein Kahlschlag bei der Arbeitsförderung sind genau die falschen Antworten. Wir wollen die Mittel direkt für den qualitativen und quantitativen Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen und für bessere Förderungsangebote, gerade auch für die fast eine Million Langzeitarbeitslose, die Schwarz-Gelb bereits aufgegeben hat.
Für eine NEUE POLITIK und einen entschlossenen Kampf gegen Rechtsextremismus
Das Jahr 2011 brachte mit voller Wucht das Bedürfnis der Menschen nach einem demokratischen Aufbruch auf die weltweite Agenda. Der Arabische Frühling, die Proteste in Spanien, Griechenland, Israel, Chile, Iran, Russland, China, die Occupy-Bewegung oder die Anti-Atomproteste in Japan haben gezeigt: Die Menschen wollen mitentscheiden und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, sie lassen sich nicht länger von Regierungen, Parteien, Autokraten oder der Finanzwelt ein Leben aufzwingen, das ihren eigenen Interessen gefühlt oder tatsächlich widerspricht. Sie sind bereit, dafür viel Energie, Kraft und Zeit einzusetzen und teilweise auch große Gefahren einzugehen. Das hat Schwarz-Gelb nicht verstanden, weil sowohl die Union als auch die FDP ein Politikverständnis an den Tag legen, das von Oben nach Unten gerichtet ist. Dazu passt, dass selbst verbriefte Grundrechte schamlos geschleift werden: Statt sich entschieden gegen die Vorratsdatenspeicherung einzusetzen oder die notwendige Modernisierung beim Datenschutz voranzutreiben, passiert im besten Fall nichts, im schlechtesten Fall das Falsche. Doch wir brauchen einen gemeinsamen Aufbruch zu einer NEUEN, partizipativen Form von POLITIK. Eine Politik, die nicht ausgrenzt, sondern einbindet und in der sich PolitikerInnen wieder als wirkliche VertreterInnen der Bevölkerung auf Augenhöhe verstehen. Wir Grüne stehen wie keine andere Partei seit über 30 Jahren für die partizipative Revolution, die nun auch gesellschaftlich mehrheitsfähig geworden ist.
Die Entdeckung der rechtsextremistischen Terrorgruppe NSU, die durch sie verübten Morde, das völlige Versagen der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechtsextremismus und die Schwächung des gesellschaftlichen Anti-Rechts-Kampfes durch Bundesministerin Schröder lassen die Stärkung der Demokratie und den Kampf gegen Rechts zum Schwerpunkt unserer politischen Aktivitäten in diesem Jahr werden. Wir werden eine lückenlose und transparente Aufklärung der rechtsterroristischen Strukturen, der NSU-Morde und des Versagens der Sicherheitsbehörden über parlamentarische Untersuchungsausschüsse durchsetzen, wir wollen die Voraussetzungen für ein NPD-Verbot schaffen, die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden kritisch überprüfen und die Extremismusklausel von Ministerin Schröder abschaffen. Wir fordern die Verstetigung und die Verdopplung der Bundesmittel für demokratiefördernde und Anti-Rechts-Projekte sowie eine Anpassung der Vergabekriterien und Antragsstellung. Dafür werden wir weiter Druck auf die zuständige Bundesministerin Schröder sowie auf die schwarz-gelbe Bundesregierung insgesamt ausüben. Beim Kampf gegen Rechts auf die Vorratsdatenspeicherung zu setzen, wie es aus den Reihen der Union und der SPD gefordert wird, ist allerdings ein Irrweg und wird von uns entschieden abgelehnt. Daneben fordern wir die lückenlose Aufklärung der Umstände der Gewalteskalation zwischen Polizei und Protestierenden bei der Gedenkdemo für Oury Jalloh vergangenen Samstag in Dessau, bei der zwei Aktivisten schwer verletzt wurden.
2012 – Den Wechsel einläuten
2011 war für uns Grüne ein einzigartiges Erfolgsjahr mit großartigen, teils historischen Wahlerfolgen und stetigen Mitgliederrekorden. Neben CDU/CSU und SPD sind wir als dritte politische Kraft in allen Landtagen vertreten und stellen einen Ministerpräsidenten. 2012 wollen wir diesen Erfolgsweg mit einem starken grünen Ergebnis bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 6. Mai fortsetzen und das Auslaufmodell Schwarz-Gelb in einem weiteren Bundesland von der Regierung ablösen. Wir erwarten im Saarland von den anderen Parteien, dass sie sich nicht von der Möglichkeit eines kalten Machtwechsels verleiten lassen, sondern Neuwahlen in diesem Jahr möglich machen. Auch dort werden wir dann mit starken Grünen unsere gute Arbeit für das Land fortsetzen. So stellen wir die Weichen für 2013. Denn es wird Zeit für eine Bundesregierung, die einen klaren Kurs verfolgt und an das Wohl der Menschen statt an ihr eigenes und das der Lobbyverbände denkt.
PRESSEDIENST BUENDNIS 90/DIE GRUENEN
Bundesvorstand
Dr. Jens Althoff
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