München, 09. Juni 2011 – Schuldenkrise, Grenzkontrollen – die Europäische Union ist mit massiven Herausforderungen konfrontiert. Wir sprachen mit den Europarechtlern und Autoren Prof. Dr. Christian Calliess und Prof. Dr. Matthias Ruffert über die Rolle des EU-Rechts in dieser prekären Situation. Gerade ist im Verlag C.H.Beck die 4. Auflage ihres Kommentars zum Vertrag über die Europäische Union (EUV) und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in der Fassung des Vertrages von Lissabon erschienen. Das Fazit der EU-Rechtsexperten: Die Lage ist angespannt, aber nicht aussichtslos.
1) Hätten Sie gedacht, dass der Vertrag von Lissabon unmittelbar nach seiner Unterzeichnung einer so harten Bewährungsprobe ausgesetzt sein würde, Stichwort: Schuldenkrise?
Ruffert: Tatsächlich waren die Hoffnungen in der Europarechtswissenschaft darauf gerichtet, nach dem extrem langwierigen Ratifikationsverfahren eine stabile normative Arbeitsgrundlage zu bekommen. Die letzte Reformphase begann ja bereits zur Jahrtausendwende mit dem „Post-Nizza-Prozeß“, und die Reformbemühungen reichen zurück bis zu den „leftovers“ des Vertrags von Maastricht. Daß schon wenige Wochen nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon – unterzeichnet wurde er schon 2007, vom letzten Mitglied ratifiziert erst im November 2009 – der gesamte Integrationsprozeß so unter Druck geraten würde, wie dies durch die Griechenlandkrise geschehen ist, hat mich überrascht.
2) Und nun auch noch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch einige EU-Staaten.
Calliess: In der Tat ein Tiefpunkt. Die EU muß sich der sachlichen Kritik auch unbequemer Gruppierungen in Wort und Tat stellen. Offene Rechtsbrüche wie die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ohne Notsituation – für eine solche geben die Bestimmungen der Verträge und das Sekundärrecht Handhaben – sind der Idee einer Rechtsgemeinschaft (Anm.: Der Begriff wurde früh von Walter Hallstein geprägt.) unwürdig. Die Achtung des Rechts ist ein Fundament jeglicher Integrationspolitik.
3) Politiker wären also gut beraten, hin und wieder einen Blick in die Neuauflage des von Ihnen herausgegebenen Kommentars zum EUV und AEUV zu werfen?
Ruffert: Generell wünscht man sich als Wissenschaftler, daß sich die Politik nicht „beratungsresistent“ zeigt, sondern die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Kenntnis nimmt. Die europarechtliche Forschung ist vielfältig und tiefgehend, und wir glauben schon, daß unser Kommentar hieraus einen repräsentativen Querschnitt vermittelt. Bleiben wir bei den Beispielen Schuldenkrise oder Schengen-Raum – zu beiden Bereichen finden Sie bei uns den Stand von Praxis und Forschung dokumentiert und jeweils analysiert von führenden Vertretern des Faches aus Wissenschaft und Praxis. Dies gilt natürlich auch für die übrigen Bereiche des Europarechts.
4) Was unterscheidet Ihren Kommentar von anderen Werken zur EU-Verfassung?
Calliess: Das Schrifttum zum Europäischen Verfassungsrecht ist unübersehbar, und wir sind in der glücklichen Lage, auf hervorragende Literatur zurückgreifen zu können. Eine Komplettkommentierung von EUV und AEUV einschließlich der Grundrechtecharta, die nun zum verbindlichen Primärrecht gehört, im Umfang unseres Kommentars ist jedoch bislang noch nicht darunter. Das wird sich irgendwann ändern, und so sehen wir ein Markenzeichen in der dreigliedrigen Abschichtung von Rechtsprechung/Praxis – Meinungsstand im Schrifttum – Stellungnahme des jeweiligen Autors. Nicht zuletzt sollte es auch von Vorteil sein, das ganze primäre Europarecht mit einem Band in die Hand nehmen zu können – wenn auch die ständige Ausdehnung des Vertragstextes es immer schwerer macht, diesem Anspruch zu genügen.
5) Geben Sie bitte noch einen Ausblick: Wird das EU-Recht stark genug sein, die Mitgliedsstaaten zusammen zu halten?
Ruffert: Juristen sind schlechte Prognostiker oder gar Wahrsager. Dies gilt sogar für Europarechtler. Dennoch meine ich: Wenn sich Bürger und Politiker der unleugbaren Vorteile einer europäischen Rechtsunion besinnen, müssen wir uns über die Zukunft keine Gedanken machen.
Buchhinweis:
Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Verlag C.H.Beck, 4. Auflage, 2011, ISBN 978-3-406-61449-1, 239 Euro, www.beck-shop.de/1227916
Der Verlag C.H.Beck (gegründet 1763) zählt zu den großen, traditionsreichen Verlagen in Deutschland. Dafür sprechen über 7.000 lieferbare Werke, rund 50 Fachzeitschriften sowie jährlich mehr als 1.000 Neuerscheinungen und Neuauflagen. Unter ihnen befinden sich renommierte Titel wie Schönfelder „Deutsche Gesetze“, Palandt „Bürgerliches Gesetzbuch“ und die „Neue Juristische Wochenschrift“, aber auch praktische Ratgeber für den Verbraucher. Viele der Werke sind zusammen mit umfangreicher Rechtsprechung und mehr als 4.500 Gesetzen digital über beck-online (www.beck-online.de), die mehrfach ausgezeichnete juristische Datenbank des Verlages, abrufbar. Im Web 2.0 ist C.H.Beck mit dem beck-blog (www.beck-blog.de) und der beck-community (www.beck-community.de) aktiv. Mit dem beck-stellenmarkt (www.beck-stellenmarkt.de) unterhält C.H.Beck Deutschlands größte Jobbörse für Juristen. Unter dem Dach der BeckAkademie (www.beck-akademie.de) veranstaltet der Verlag jährlich mehrere hundert Fortbildungen in den Bereichen Recht und Steuern. Darüber hinaus ist C.H.Beck an einigen juristischen Fachverlagen im In- und Ausland mehrheitlich beteiligt. Das Familienunternehmen besteht in sechster Generation.
Verlage C.H.Beck oHG / Franz Vahlen GmbH
Mathias Bruchmann
Wilhelmstraße 9
80801 München
Mathias.Bruchmann@beck.de
089/38189-266
http://www.presse.beck.de