Wenn Radreiseprofis auspacken

Wenn Radreiseprofis auspacken

Freiheit – das verbinden die meisten Menschen mit Radreisen. Befreien muss man sich dabei vor allem vom materiellen Überfluss. Möglichst klein und leicht sollte der mobile Hausstand sein. Und wie wenig man tatsächlich braucht, verblüfft jeden. Zwar sind Reiseräder oft sehr individuell aufgebaut, aber in puncto Ausrüstung lassen sich viele Ähnlichkeiten finden. Der pressedienst-fahrrad hat erfahrene Radreisende nach Besonderheiten und ihren Tipps befragt.

[pd-f/hdk] Die Handgriffe sitzen blind – kein Wunder, denn gepackt wird ständig. Mehrmals täglich, bei Pausen oder Wetterumschwüngen, greifen Radreisende ins Gepäck und auch während der Fahrt müssen Jacke, Schokoriegel und Kamera ohne Umstände zur Hand sein. Alle Reiseradler treibt der Spagat zwischen bestmöglicher Vorbereitung und Gewichtsreduktion um. Denn es sollte immer möglich sein, das komplette Gefährt alleine tragen zu können. Dabei wird das Reisen immer einfacher: Globaler Handel und weltweit agierende Paketdienste machen heute die Ersatzteilversorgung leichter und die Ausrüstungsentscheidung nicht so endgültig – beides zum Vorteil des Gewichts!

Maximale Reduktion – Erfahrung schützt vor Irrtum nicht

„Am Anfang steht immer die Frage: Was nehme ich mit und was ist sinnlos?“, berichtet Radreiselegende Tilmann Waldthaler. Auch nach 37 Jahren, die er nunmehr quasi „hauptberuflich“ Radreisen unternimmt, packe er noch immer zu viel ein, der Mensch sei nun einmal Sammler. „Nach zwei Wochen weiß man, was man wieder heimschicken kann.“
Überdies sei unterschiedlich, was man für welche Reise brauche. „Ein Wasserfilter für Mitteleuropa? Da reichen vielleicht Kohletabletten“, erklärt Philip Baues, radreisender Journalist, und rät, das Gesamtgewicht im Blick zu behalten – als Orientierung gelte das enge Gepäcklimit der Fluggesellschaften.
Der radreisende Arzt Dr. Dirk Rohrbach empfiehlt eine Vorabtour, um den Umfang der Ausstattung für die große Reise zu prüfen. Sybille und Michael Fleischmann starteten jeder mit vier großen Packtaschen, Packsack, Lenkertasche, Rahmentasche und Rucksack – randvoll mit Bedarf für sich und ihre zwei Hunde. Mittlerweile sind Lenkertasche, Packsack und Rucksäcke Geschichte und die Taschen nicht mehr so prall gefüllt wie anfangs: „Das sind große Erfolge!“

Packtaschen – alles drin und immer dicht

Weltweit sind nahezu alle Radreisenden mit den typischen wasserdichten Gepäckträgertaschen unterwegs. Verständlich, denn klamme Klamotten oder ein nasser Schlafsack sind nicht nur extrem unangenehm, sondern am Ende schlecht für die Gesundheit. Die Angst vor dem Nass ist ein permanenter Spaßkiller. „Gute Taschen sind unumgänglich“, erklärt der E-Bike-Reisende Maximilian Semsch. Ob im Alltag der Einkauf oder mit 3.000 Euro teurer Fotoausrüstung im prasselnden Regen, auch nach 10.000 Kilometern – „no worries“.
Denis und Tanja Katzer reisen mit acht identischen grünen Packtaschen und haben sie daher kurzerhand beschriftet. „Man sollte übrigens darauf achten, dass das Gewicht seitlich gleichmäßig verteilt ist“, sagt Denis Katzer. „Und vorne nicht zu schwer, sieben Kilo Maximum!“

Goldene Regeln

Was die Packstrategien betrifft, finden sich viele ähnliche Ansätze. „Alles hat – ohne Ausnahme – seinen fixen Platz“, verkündet Daniel Kormann, derzeit mit Partnerin Karen Greiderer auf Falträdern in Asien unterwegs. „Das spart nicht nur Zeit beim Zugriff, es stellt auch sicher, dass man nichts vergisst.“ Grundsätzlich komme schweres Gepäck nach unten in die Taschen und nach oben, was man tagsüber schneller braucht.
Eine simple Eselsbrücke hilft Jens Klatt (Fotograf und Radreisender mit Kayak-Anhänger): „Links wie Liegen (Schlafsack, Isomatte, Gemütliches für abends), rechts wie Regen (Regensachen, Weste, Wechselshirt, was man tags so braucht“, sonst öffne man doch immer die falsche Tasche zuerst.

Unverzichtbar!

„Die wichtigste Tasche für mich ist die Lenkertasche, da habe ich alle wichtigen Gegenstände drin, wie Geldbeutel, Reisepass, Kreditkarte aber auch meine vollen Speicherkarten aus der Kamera“, erklärt Max Semsch. Eric Schujt wiederum geht auf Nummer sicher und versteckt als Notgroschen einen 100-Euro-Schein am Rad.
Mateusz Emeschajmer und Ania Poltorak sind seit Anfang 2012 on tour und navigieren mit ihren Smartphones – geladen werden jene am Nabendynamo oder Solarpanel. Philip Baues fährt nirgends ohne Ohropax hin: „Ohne erholsamen Schlaf bin ich nicht leistungsfähig und der ganze Trip leidet.“ Für Karen Greiderer und Daniel Kormann sind wasserdichte Packsäcke von zentraler Bedeutung. Die gibt es in verschiedenen Größen, so könne man „das vorhandene Packvolumen einfach besser nutzen, und man bewahrt den Überblick.“ Dirk Rohrbach führt hier auch das Argument „Aroma-Schutz“ an. Zudem rät er, dünne Arbeitshandschuhe für Reparaturen dabeizuhaben: „Sie schützen die Hände vor Hautverletzungen und schmierigem Öl, das unterwegs nur schwer zu entfernen ist.“
Und auch etwas Luxus darf sein: Sybille und Michael Fleischmann gönnen sich einen Espressokocher („300 Gramm!“), Hängematten und kleine Lautsprecher, „denn Musik im Zelt ist manchmal Balsam für die Seele!“
Für die meisten Weltenbummler ist der Campingkocher unverzichtbar, so berichtet Tom Richter, der als erste Deutscher die Welt auf dem Liegerad umrundete: „In einigen Destinationen würde man zwar auch ohne Kocher auskommen. In vielen Ländern hieße die Alternative aber, endlos, wirkungslos Weißbrot zu essen. Dafür ist eine gehaltvolle Ernährung beim Radfahren zu wichtig, auch psychologisch.“

Wetterschutz – unterschiedliche Kleidungsstrategien

„Was man einpackt, wird logischerweise durch die Jahreszeit, die klimatischen Schwankungen und die vor Ort vorhandene Infrastruktur bestimmt,“ berichtet Reinhard Pantke. „Es spielt eigentlich keine Rolle, ob man zwei Wochen oder zwei Monate unterwegs ist.“ Denis Katzer erklärt, das Regenzeug immer griffbereit zu haben: „In Sibirien gibt es schnell mal Temperaturänderungen von 20 Grad , da zieht man sich lieber einmal zu oft an, als sich zu erkälten. Der Körper ist mein Tempel, der muss mich voranbringen!“ Anders äußert sich Michel Leisner, der im April 2014 von einer Liegerad-Weltumrundung in wärmeren Gefilden heimkehrte: „Anfangs benutzte ich noch Regenkleidung, stellte dann aber fest, dass ich schneller durchnässt war, als ich die Sachen anziehen konnte. Das Gepäck kann man sich also sparen – lieber unterstellen und abwarten.“ Auch das Zelt könne als Unterstand dienen, wenn sich sonst nichts findet.

Adaption über den Tellerrand

„Es gibt mittlerweile eine nie zuvor dagewesene Fülle an hochwertigen Reiserädern und raffiniert spezialisierten Anbauteilen wie Taschen, Gepäckträgern und Anhängern“, sagt Tilmann Waldthaler. Doch sind die Bedürfnisse der Reisenden mitunter noch spezieller geworden. „Am Grundprinzip des Transports am Rad hat sich seit den Achtzigern nichts getan“, erklären Mateusz Emeschajmer und Ania Poltorak. Für beide ist das Neudenken daher essenziell. Zwei Jahre lang fuhren sie mit selbst entwickelten, ausladenden Frontgepäckträgern, die einerseits ihre Ruck- und Packsäcke aufnahmen und andererseits Basis für Radtransportkisten darstellten. Mittlerweile verfolgen sie einen minimalistischeren Ansatz und orientieren sich am sogenannten Bikepacking, dem Reisen ohne Gepäckträger, bei dem eher Lenker-, Rahmen und Satteltaschen zum Einsatz kommen. Die Taschen hierfür entwerfen sie derzeit selbst – ergänzend zu bewährten Standards. „Wenn du genau weißt, was du willst, kannst du überlegen, wie es am besten ans Rad passt. Vieles kann man selbst machen!“, ist Mat überzeugt.

Elektrisch Reisen

Ein Vorreiter in Sachen E-Bike-Abenteuer ist der Münchner Maximilian Semsch. 2013 befuhr er Australien, im Gepäck ein Ladegerät und ein zweiter Akku. Das höhere Gesamtgewicht gleiche der Motor aus, erklärt er – natürlich müsse man aber genau planen, denn die Distanzen zwischen Tankstellen sind gerade im Outback riesig. Da wundert es schon, dass er von 16.000 Kilometern nur 400 „ohne Saft“ radeln musste. „Doch da liegt der Vorteil des Pedelecs – man kann einfach weiterfahren, ein E-Auto müsstest du schieben.“
Sonderfall Liegerad

Liegeräder – ob mit zwei oder drei Rädern – sind ideale Reisevehikel, denn sie bieten eine entspannte Sitzposition und einen komfortablen Rundumblick. Durch ihren tiefen Schwerpunkt variiert die Fahrdynamik mit viel Gepäck nicht so stark vom unbeladenen Zustand wie beim herkömmlichen Fahrrad. „Die tiefe Position gewinnt auch in Sachen Luftwiderstand gegenüber dem aufrechten Fahren – und selbst das Gepäck ist aerodynamisch optimal hinter der Sitzlehne positioniert“, erklärt Tom Richter.
Das wichtigste Gepäck ist im Kopf

„Wenn Leute eine Radreise planen, wollen sie immer möglichst autark sein“, weiß Tilmann Waldthaler. „Das ist falscher Stolz!“ Er habe überall auf der Welt gute Erfahrungen damit gemacht, Menschen um Hilfe zu bitten. Der wichtigste Ausrüstungsgegenstand sei daher nicht materiell, sondern eher ideell, ein Gedankengut: Kommunikationsbereitschaft. „Die Menschen sind freundlich und dankbar für Kontakt und Gespräche, etwa wegen ein paar Litern Wasser. Sie sind oft überrascht, dich zu treffen und froh, zu helfen!“ Ganz wichtig: Hilfsbereitschaft zurückzuweisen gehe in keiner Kultur! „Die Menschen sind doch glücklich, wenn jemand anders die Reise macht und davon erzählen kann. So können wir den Weg zueinander finden und pflegen!“

Der pressedienst-fahrrad hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem guten Fahrrad und dessen Anwendung mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Denn wir sind der Meinung, dass Radfahren nicht nur Spaß macht und fit hält, sondern noch mehr ist: Radfahren ist aktive, lustvolle Mobilität für Körper und Geist. Kurz: Radfahren ist Lebensqualität, Radfahren ist clever und Radfahren macht Lust auf mehr…

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