Verdrehtes Röntgenlicht verrät Spinwellen

Hamburg (pressrelations) –

Verdrehtes Röntgenlicht verrät Spinwellen

Das Messprinzip, das diese Woche im Fachjournal „Physical Review Letters“ vorgestellt wird, umgeht Probleme bisher vorhandener Analysemethoden und könnte mittelfristig sogar erlauben, mit einem einzigen Röntgenblitz die ganze magnetische Dynamik eines Systems zu erfassen. So können beispielsweise schnelle Schaltprozesse in magnetischen Speichern der Zukunft untersucht werden.

Strahlt man Röntgenlicht auf Atome, die sich in Bewegung befinden, ändert sich bei der Streuung der Strahlung an diesen Atomen die Energie und damit die Wellenlänge des Lichts. Auf diesem Prinzip, dem sogenannten Dopplereffekt, beruht die Methode der inelastischen Röntgenstreuung. Ähnlich wie bei einer Radarfalle, bei der durch eine Wellenlängenveränderung der Radarstrahlung die Geschwindigkeit des fahrenden Fahrzeugs bestimmt wird, können atomare Bewegungen wie Gitterschwingungen in Kristallen mit Hilfe des intensiven Röntgenlichts aus Teilchenbeschleunigern untersucht werden. Das Problem: Die Energie des eingestrahlten Lichts ändert sich bei der Streuung nur minimal – um etwa den milliardsten Bruchteil seiner Energie. Deshalb kann für solche Experimente nur Licht aus einem sehr schmalen Energie- bzw. Wellenlängenbereich eingesetzt werden. Die Röntgenstrahlung, die ein Teilchenbeschleuniger zur Verfügung stellt, hat jedoch ein breites Energiespektrum. Der allergrößte Teil dieser Synchrotronstrahlung muss also ausgeblendet werden und wird gar nicht genutzt. Als Folge kann die Intensität des nutzbaren Lichts trotz stärkster Röntgenquellen so schwach werden, dass diese Experimente nicht mehr durchführbar sind.

Einen Ausweg aus dieser Situation bietet eine neue Untersuchungsmethode, die Prof. Ralf Röhlsberger vorschlägt: Statt die Energiedifferenz beim Streuprozess zu messen, nutzt seine Methode zur Energieanalyse einen weiteren, bisher wenig beachteten Einfluss der untersuchten Probe auf die Polarisation der gestreuten Strahlung. Bei der inelastischen Streuung von Röntgenlicht an einer magnetischen Probe wird nämlich nicht nur die Energie der eingestrahlten Photonen verändert, sondern es wird auch die Ausrichtung ihrer Polarisationsebene verdreht: Die Spinwellen in der beobachteten Probe versetzen die Polarisation, d.h. die Schwingungsebene der gestreuten Photonen in eine Art Kreiselbewegung, auch Präzession genannt. „Diese Kreiselbewegung ist ebenso charakteristisch für die magnetischen Anregungen im System wie die Energieverschiebung bei der konventionellen Methode“, erklärt Röhlsberger, der auch an der Universität Hamburg lehrt und Mitglied des Exzellenzclusters Hamburg Centre for Ultrafast Imaging (CUI) ist. „Misst man diese Präzession im Verhältnis zum eingestrahlten Referenzstrahl, hat man einen Fingerabdruck des Spektrums der Spinwellen in der Probe.“

Der große Vorteil des Konzepts ist, dass statt eines sehr schmalen Energiebereichs ein wesentlich breiteres Energieband zur Untersuchung genutzt werden kann, ohne die Messgenauigkeit zu verlieren. Ein Messprinzip mit ähnlichen Eigenschaften für Streuexperimente mit Neutronen, das sogenannte Neutronen-Spinecho, wird seit langem eingesetzt, um dynamische Prozesse in Festkörpern mit höchster Energieauflösung zu untersuchen. Mit Neutronen ist so eine Methode allerdings viel einfacher zu realisieren, weil sich jede Energieänderung direkt auf deren Geschwindigkeit auswirkt, aus der man dann exakt die Energie bestimmen kann. Auf Photonen lässt sich die Methode nicht direkt übertragen, da diese, unabhängig von ihrer Energie, stets mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind. „Deshalb habe ich für Photonen nach einer spektroskopischen Methode gesucht, bei der die Energieauflösung nicht von der Bandbreite der verwendeten Strahlung abhängt“, sagt Röhlsberger.

Erste Versuche zur experimentellen Realisierung dieser neuen Methodik, die Röhlsberger und sein Team an der Europäischen Synchrotronstrahlungsquelle ESRF durchführten, haben vielversprechende Ergebnisse geliefert. Ist das Messverfahren etabliert, ergeben sich weitreichende Anwendungsmöglichkeiten, angefangen von magnetischen Schaltvorgängen bis hin zu den Anregungsspektren von künstlich strukturierten magnetischen Festkörpern für die magneto-optische Informationstechnologie. Insbesondere die niederenergetische Dynamik von komplexen magnetischen Materialien gibt den Forschern heute noch Rätsel auf, die mit Hilfe dieser neuen Methode gelöst werden können.

„Die Methode eignet sich aber nicht nur für Synchrotronlichtquellen wie PETRA III, sondern auch für Untersuchungen mit Röntgenlasern wie dem European XFEL, der zurzeit vom DESY-Gelände in Hamburg-Bahrenfeld bis ins benachbarte Schenefeld in Schleswig-Holstein gebaut wird. Die Idee ist, dass wir am Ende mit einem einzigen Lichtblitz aus dem European XFEL die ganze Dynamik eines magnetischen Systems erfassen können.“

Das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY ist das führende deutsche Beschleunigerzentrum und eines der führenden weltweit. DESY ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und wird zu 90 Prozent vom BMBF und zu 10 Prozent von den Ländern Hamburg und Brandenburg finanziert. An seinen Standorten in Hamburg und Zeuthen bei Berlin entwickelt, baut und betreibt DESY große Teilchenbeschleuniger und erforscht damit die Struktur der Materie. Die Kombination von Forschung mit Photonen und Teilchenphysik bei DESY ist einmalig in Europa.

Originalveröffentlichung
„Photon Polarization Precession Spectroscopy for High-Resolution Studies of Spin Waves; Ralf Röhlsberger; Physical Review Letters, Bd. 112, Nr. 11, 21.3.2014; DOI: 10.1103/PhysRevLett.112.117205 (online vorab am 18.3.2014)

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