Niemand kann sein Potenzial in vollem Umfang entfalten, aber jeder hat – egal wie alt er oder sie bereits ist – die Möglichkeit, es zum Erwerb neuen Wissens und zu Aneignung neuer Fähigkeiten zu nutzen.
Zwingen kann ihn dazu allerdings niemand, nur einladen, ermutigen und inspirieren.
Aber genau damit haben viele Führungskräfte ein Problem. Nicht nur in der Schule, während der Ausbildung oder an der Universität, auch in Unternehmen und Organisationen.
Deshalb bleibt so vieles, was Schüler, Lehrlinge oder Mitarbeiter wissen und können – und deshalb zu leisten imstande sind – weit unter den Möglichkeiten.
Die Lehrkräfte in den Schulen, die Ausbilder in den Betrieben, die Professoren an den Universitäten können damit offenbar recht gut leben.
Der Fortbestand ihrer Einrichtungen wird dadurch nicht gefährdet.
Aber Betriebe und Unternehmen funktionieren anders. Die können am Markt nicht bestehen und gehen pleite, wenn ihre Mitarbeiter keine Lust haben, sich weiterzuentwickeln. Es reicht inzwischen auch nicht mehr aus, wenn sich hin und wieder jemand findet, der bereit ist, zuzupacken, mitzudenken und Verantwortung zu übernehmen.
Moderne Unternehmen, zumal in unserem Kulturkreis, brauchen Mitarbeiter, die Lust darauf haben, sich einzubringen und denen es Freude macht, auszuprobieren, was noch alles geht, was noch besser gehen könnte.
Im Prinzip funktionieren Unternehmen und Organisationen nicht viel anders als ein Gehirn. Auch sie verfügen über ein Potenzial, das erheblich größer ist als es in ihren Bilanzen zum Ausdruck kommt. Auch hier geht prinzipiell noch deutlich mehr – allerdings nicht durch noch mehr Leistungsdruck oder noch besseres Controlling. Damit lassen sich bestenfalls kurzfristige Erfolge und Gewinne erreichen.
Langfristig untergräbt diese Strategie das Engagement und die Bereitschaft der Mitarbeiter, die in ihnen angelegten Potenziale zu entfalten.
Sie tun dann nur, was sie müssen und wofür sie bezahlt werden. Und das ist für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens zu wenig.
Die Frage ist also, ob und wie es besser gehen könnte.
Genau dieser Frage bin ich seit einigen Jahren nachgegangen.
So unterschiedlich die jeweils eingeschlagenen Wege und Strategien dabei in den einzelnen Unternehmen auch sein mögen – überall wird deutlich, dass vor allem auf eines ankommt: dass die Mitarbeiter das Gefühl haben, nicht länger als Objekt der Bewertungen, der Anordnungen, der Maßnahmen oder der Interessen ihrer Führungskräfte benutzt zu werden.
Sie wollen als Subjekte gesehen werden, denen etwas zugetraut und manchmal auch zugemutet wird.
Es sind keine speziellen Methoden oder Techniken, die in diesen Unternehmen von den Führungskräften eingesetzt werden.
Es ist eine andere, eine besondere Haltung, die es diesen Führungskräften auf unterschiedlichste Weise ermöglicht, ihre Mitarbeiter zur Entfaltung der in ihnen angelegten Potenziale einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren.
Wahrscheinlich liegt genau darin das Geheimnis des Gelingens: dass man es nicht machen kann, dass man immer erst selbst durch Versuch und Irrtum ausprobieren muss, wie es geht, wie es besser geht als bisher.
Und dass es dabei primär auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen allen Beteiligten ankommt.
Überall dort, wo eine von Wertschätzung und Achtsamkeit im Umgang miteinander bestimmte Beziehungskultur entstanden ist, wo alle Mitarbeiter eines Unternehmens an einem Strang ziehen und ein gemeinsames Ziel verfolgen, stellt sich auch der wirtschaftliche Erfolg als Resultat dieses gemeinsamen Bestrebens über kurz oder lang ein.
„Selbstoptimierung lebender Systeme“ nennen das die Systemtheoretiker.
Sie sind gegenwärtig dabei, das diesem Phänomen zugrunde liegende allgemeine Prinzip zu verstehen: In jedem lebenden System organisieren die daran beteiligten Teilsysteme (in einem Unternehmen sind dass die Mitarbeiter) ihre Beziehungen untereinander immer so, dass der zum Erhalt des betreffenden Systems erforderliche Energieaufwand möglichst gering bleibt.
In vielen Unternehmen wird dieses Prinzip gegenwärtig jedoch eher in seiner negativen Ausprägung deutlich:
Weil die Beziehungen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern und oft sogar innerhalb der gesamten Belegschaft so problematisch sind, wird in diesen Unternehmen sehr viel Energie Verbrauch, um die aus diesen gestörten Beziehungen erwachsenen Reibungsverluste einigermaßen zu kompensieren.
Eine Zeit lang mag das so noch funktionieren – zukunftsfähig ist eine derartige Beziehungskultur aber nicht.
Vielleicht gelingt es, dass Mitarbeiter in Unternehmen ihre Freude am eigenen Denken und am gemeinsamen Gestalten nicht verlieren. In diesem Fall würde es nicht ausreichen, neue Technologien einzuführen.
Stattdessen müsste das Zusammenleben der Menschen so gestaltet werden, dass jeder Einzelne sich eingeladen, ermutigt und inspiriert fühlt, seine Talente und Begabungen, also seine Potenziale zu entfalten.
Dann freilich wäre die entscheidende Basisinnovation, die unser Leben und unsere wirtschaftliche Entwicklung in den kommenden Jahrzenten bestimmt, nicht eine neue Entdeckung oder Erfindung, sondern eine andere innere Einstellung, ein anderes Selbstverständnis und eine andere Art und Weise des Umgangs miteinander und mit unserer Natur.
Dann würde Wachstum durch die Vermeidung all der vielen Reibungsverluste ermöglicht. Dann könnten wir unendlich weiter wachsen, ohne immer größer zu werden und immer mehr zu verbrauchen. So wie es uns unser eigenes Gehirn vormacht: durch die Verbesserung und den Ausbau der Beziehungen zwischen allen Beteiligten.
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