Subsidiarität oder Substitution: Herrenhäuser Gespräch zum Freiwilligendienst

Hannover (pressrelations) –

Subsidiarität oder Substitution: Herrenhäuser Gespräch zum Freiwilligendienst

Am 16. Januar 2014 fand das 24. Herrenhäuser Gespräch zum Thema „Einfach mitmachen! – Zur gesellschaftlichen Bedeutung freiwilligen Engagements“ statt. Der Abend lehnte sich an das am 1. Januar 2014 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes“ an und entsprang einer Kooperation mit den Evangelischen Freiwilligendiensten.

In seiner Einleitung stellte Moderator Stephan Lohr von NDR Kultur Freiwilligendienste als „Scharnier in unserer Gesellschaft“ dar. Freiwilligendienste werden in sozialen Einrichtungen, im Sport- und Kulturbereich, in Form eines Freiwilligen Ökologischen Jahres sowie in der Entwicklungspolitik und im Katastrophenschutz im In- und Ausland angeboten. Der internationale Freiwilligendienst blickt auf eine lange Tradition zurück: Seit den 1960er Jahren wurden bereits in der Friedens- und Gedenkstättenarbeit im In- und Ausland Angebote geschaffen. Freiwilligendienste können mindestens drei bis maximal 24 Monate dauern und betragen die Hälfte der Arbeitszeit einer Vollzeitstelle.

Durch die Dienste erhalten Freiwilligen die Gelegenheit, informell Einblicke in ihnen bisher fremde gesellschaftliche Realitäten zu gewinnen, gleichzeitig ihre sozialen Kompetenzen zu verbessern und soziale Verantwortung zu übernehmen. Die Träger profitieren hingegen von dem jugendlichen, frischen Blick der Freiwilligen ebenso wie von deren erbrachter Leistung.

Doch die Ausprägung der Freiwilligendienste muss auch kritisch betrachtet werden: Sie werden eher von jungen Frauen als von jungen Männern, und stärker von Gymnasiasten als von Haupt- und Realschülern wahgenommen, wobei der Anteil letzterer in den vergangenen Jahren stieg. Woran liegt dies und wie kann oder sollte es verändert werden? Ebenso können mit der Einführung des staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienstes im Jahr 2011, der an die Stelle des Wehr- und des Zivildienstes getreten ist, auch Personen über 27 Jahren am Freiwilligendienst teilnehmen – hierzu zählen etwa Arbeitssuchende oder Pensionäre. Ist das wünschenswert für den Freiwilligendienst? Und was bedeutet es für die Selbstdefinition: Ergänzt der Freiwilligendienst subsidiär zivilgesellschaftlich oder wir er gar als staatlicher Dienst empfunden?

Mit Moderator Stephan Lohr diskutierten zur Klärung dieser Fragen vier Gesprächspartner:

Prof. Dr. Gisela Jakob, Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule Darmstadt;

Prof. Dr. Beate Finis Siegler, Professorin für Ökonomie und Sozialpolitik an der Fachhochschule Frankfurt am Main;

Prof. Dr. Rupert Graf Strachwitz, Politikwissenschaftler und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der HU Berlin;

Bischof Jan Janssen, Beauftragter des Rates für Evangelische Freiwilligendienste.

Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat

Seit der Aufhebung von Wehr- und Zivildienst kümmert sich das Amt für Zivildienst um den Bundesfreiwilligendienst. Dies wurde von den Teilnehmern der Gesprächsrunde kritisch gesehen.

Prof. Dr. Jakob hat den Aufsatz „Freiwilligendienste zwischen Staat und Gesellschaft“ verfasst und fodert in einem aktuellen Schreiben an die Bundesregierung ein neues Freiwilligengesetz. Zwar hält sie den Freiwilligendienst für wertvoll, stellt jedoch die Frage, ob es Aufgabe des Staates sei, Freiwilligendienste zu organisieren. Sie plädiert dafür, dass er lediglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen müsse; die aktive Organisation aus staatlicher Hand stellt für Jacobs allerdings einen „Übergriff auf die Zivilgesellschaft“ dar, der versuche, das bürgerschaftliches Engagement zu steuern und zu platzieren. „Dies bedeutet eine Verdienstlichung von Engagement und kommt einer Pervertierung der Grundidee gleich“, mahnte Jakob. Statt einzugreifen solle der Staat die Trägerperspektive stärken, indem er die Organisation und der Einsatz von Freiwilligen ausschließlich in Händen der zivilgesellschaftlichen Verbände legt. Zum jetzigen Zeitpunkt laufe der Freiwilligendienst Gefahr, Arbeitskräfte zu ersetzen (Substitution) statt zu ergänzen (Subsidiarität). Jackobs Auffassung, dass sich die Freiwilligendienste zum „zentralen sozialpolitischen Engagement der Bundesregierung“ entwickeln, zeige sich mit der zur Verfügung gestellten Summe von 300 Mio. Euro.

Prof. Dr. Graf Strachwitz stimmte der Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin größtenteils zu. Er wies jedoch darauf hin, dass sich der Freiwilligendienst vom Zivildienst unterscheide, da keine Pflicht zur Ausübung bestünde. Allerdings müsse das bürgerschaftliche Engagement auf Affinität basieren und nicht auf Indienstnahme durch den Staat. Viele Teilnehmer wünschten sich, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Wirtschaftliches Vorankommen sei nicht ausschlaggebend für die Motivation der Freiwilligen. „Die freie Entfaltung kann allerdings nur gewährleistet werden, wenn eine Affinität zwischen Teilnehmer und Träger besteht, während sich der Bundesfreiwilligendienst zu sehr an den stattlichen Ansprüchen orientiert“, erklärt Prof. Dr. Graf Strachwitz. Ebenso sei es wünschenswert,dass der gemeinnützige Sektor die Protestfunktion nicht verliere, die ihm aufgrund seiner Größe in der europäischen Gesellschaft zukäme.

Prof. Dr. Finis Siegler warb um Verständnis. Tatsächlich sei die Intention des Staates aus ihrer Historie heraus nachvollziehbar: Mit der Aussetzung des Zivildienstes muss der Staat die zuletzt 70.000 Zivildienstleistenden ersetzen). Ebenso muss bedacht werden, dass der Wehrdienst nur ausgesetzt und nicht abgeschafft worden sei, so dass die Behörde weiterhin bestehen müsse. Finis Siegler warf die Frage auf, wie die eingerissene Lücke nach Aufhebung des Zivildienstes geschlossen werden könne. Versuche der Instrumentalisierung aus staatlicher Hand lassen sich somit nicht vermeiden.

Bischof Janssen rät der Bundesregierung dazu, die Erfahrungen der vorherigen Freiwilligendienste zu nutzen. Bei den Evangelischen Freiwilligendiensten sind pro Jahr bundesweit rund 12.500 Freiwillige und ca. 800 Freiwillige in den Auslandsdiensten der evangelischen Trägergruppe im Einsatz. „Dieser Erfolg beruht auf dem vielfältigen Angebot ebenso wie auf den individuellen Begleitprogrammen der Träger“, erläutert Janssen. Zwar sei der Zivildienst in seiner alten Form weniger betreuungs- und somit kostenintensiv, jedoch unerlässlich für eine erfolgreiche freie Entfaltung der Freiwilligen.

Bundesfreiwilligendienste für Arbeitssuchende und Pensionäre

Als weiteres Problem kristallisierten sich die veränderten Rahmenbedingungen des neu in Kraft getretenen Bundesfreiwilligendienst heraus: Sie lassen das Engagement von Personen, die älter als 27 Jahre sind, zu. Doch welche Chancen und Risiken sind mit dieser Änderung verbunden?

Jakob griff die negativen Entwicklungen dieser Veränderung auf. Sie nehme wahr, dass der Großteil der Ü-27-Teilnehmer aus dem Kreis der ALG-II Empfänger komme, vor allem aus Regionen in den Neuen Bundesländern. Diese sähen die Tätigkeit als Möglichkeit, mit der kleinen Aufwandsentschädigung ihr Arbeitslosengeld aufzustocken und verknüpfen damit nicht den Wunsch, sich freiwillig zu engagieren, sondern sozial-gesellschaftlich oder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.

Zwar hatte Prof. Dr. Finis Siegler in ihrem Anfangsplädoyer verdeutlicht, dass sie ebenso die Gefahr einer Beeinflussung der Marktneutralität – gerade im Bereich der sozialen Dienste wahrnehme, dennoch deutete sie die Einbindung Langzeitarbeitsloser größtenteils positiv: Sie kritisierte zwar den eventuell fehlenden Druck, sich eine andere Beschäftigung zu suchen oder mit den Freiwilligendiensten Arbeitsstellen zu ersetzen, jedoch empfand sie die Integration von Langzeitarbeitlosen in die Bundesfreiwilligendienste für legitim, da es sich bei den Teilnehmern häufig um Personen handele, die schwierig zu vermitteln seien. „Uneingeschränkt sinnvoll hingegen ist das Freiwilligenengagement von Pensionären, da hier – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden“, berichtet die Professorin für Ökonomie und Sozialpolitik. „Dieser Personenkreis kann sich etwas zur kleinen Rente hinzuverdienen und gleichzeitig einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen.“

Jakob entgegnete: Bei 48.000 Teilnehmern am Bundesfreiwilligendienst handele es sich nur um ca. 3.000 engagierte Rentner. Dies beeinflusse auch die Marktneutralität, denn gerade in den neuen Bundesländern engagieren sich viele Langzeitarbeitslose, die auf langjährige Berufserfahrungen zurückblicken könnten. Zustände, dass sich beispielsweise ein Bauhof nur aufgrund der vielen Bundesfreiwilligenhalten könne, seien nicht selten anzutreffen.

Welcher Nutzen besteht für die Teilnehmer?

Anfangs äußerte sich Bischof Janssen schmunzelnd unter theologischen Gesichtspunkten zu den Freiwilligendiensten: „Ich glaube, es gibt eine Sympathie Gottes für Freiwillige, die sich engagieren.“ Aber dennoch bestünde die Attraktivität der Freiwilligendienste seit 60 Jahren unter anderem in der Möglichkeit, sich freiwillig zu binden, Verantwortung zu übernehmen und fremde Berufsfelder nach der Schule auszuprobieren.

Graf Strachwitz ergänzt die Zunahme an Freiwilligenengagement ebenso mit der USA: Dort sei ein „Community Engagement“ im Lebenslauf unerlässlich für das spätere Vorankommen. Auch in Deutschland werde das Engagement durchaus von Unternehmen anerkannt, da es Aufschluss über soziale Kompetenzen von Bewerben gebe.

Welchen Problemen stehen die Träger gegenüber?

Bischof Janssen als Vertreter der Evangelischen Freiwilligendienste stellte fest, dass die die Dienste kein Werbeproblem hätten, da in der Schule stärker als früher auf die Möglichkeiten hingewiesen werde. Die Suche nach Trägern gestalte sich jedoch schwieriger, da es aufgrund der Diversität keine zentralen Ansprechpartner gebe.

Graf Strachwitz hingegen wünschte sich einen stärkeren öffentlichen Diskurs in den Medien. Ebenso sieht er Schwierigkeiten in den Rahmenbedingungen: Zwar werde soziales Engagement von gefordert, die Möglichkeiten in der Praxis eher eingeschränkt. Beispielsweise ließe sich das Zuwendungsrecht für kleine Organisationen kaum anwenden und auch die politischen Forderungen nach einer kürzeren Ausbildung – etwa während des Studiums – konkurrierten durchaus mit den Freiwilligendiensten.

Allerdings, entgegnete Jakob, wäre die jetzige Reichweite der Engagierten durchaus eine Erfolgsgeschichte: Früher hätten sich 30.000 Personen insgesamt engagiert, heute seien 90 bis 100.000 junge Leute tätig – dem demografischen Wandel und der „Verregelung“ von Schule (G8 und Ganztagesschulen) und Hochschule (Bologna-Prozess) zum Trotz. Dies zeige, dass viele junge Menschen aus den Institutionen ausbrechen und ein Jahr lang neue Erfahrungen sammeln möchten. Allerdings gab die Wissenschaftlerin Jakobs zu bedenken, dass gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund seltener das Angebot wahrnehmen. Sie sehe hier Handlungsbedarf, der etwa durch Kooperationen mit Schulen umgesetzt werden könne.

Am Ende des Abends waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig, dass mit dem Herrenhäuser Gespräch ein wichtiger Anfang gemacht wurde, die Freiwilligendienste stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu nehmen. Dennoch wurde der Wunsch nach einem stärkeren Diskurs über die Bedeutung des freiwilligen Engagements Audruck verliehen.

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