Soziale Medien und Demokratie: Politikwissenschaftler aus Hildesheim auf Weltkongress in Montreal
Können soziale Medien die Qualität von Demokratie verbessern? Und wie kann man das „messen“? Diesen Fragen gehen Marianne Kneuer, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim, und ihr spanischer Kollege Oscar Luengo, Professor an der Universität Granada, auf der Weltkonferenz der Politikwissenschaft Ende Juli in Montreal nach.
Die spanischen Zeltlager an der Puerta del Sol und die Occupy-Bewegung des Jahres 2011 haben bewiesen, dass Facebook und Twitter durchaus ein Vehikel sind, um Demonstrationen zu organisieren und Menschen zu mobilisieren. Welche Funktionen soziale Medien darüber hinaus innerhalb der Demokratie ausüben können, dazu äußert sich Marianne Kneuer so: „Wir möchten herausfinden, ob soziale Onlinemedien zu Verbesserungen demokratischer Prozesse führen können – etwa durch mehr Teilhabe der Bürger oder durch zusätzliche Plattformen der Debatte und Verständigung.“
Auf dem Weltkongress stellen die Politikwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Marianne Kneuer und Dr. Saskia Richter erste Ergebnisse ihres Forschungsprojektes zur Online-Kommunikation während der Empörungsbewegungen von 2011/12 vor. Die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) finanziert das Projekt. Dabei untersuchen die Forscherinnen die Facebook- und Twitter-Kommunikation zu je drei Zeitpunkten der Empörungsbewegungen in 2011 und 2012 in fünf Ländern: die Occupy-Bewegung in Deutschland, Großbritannien und den USA sowie die Acampada in Portugal und Spanien. Mit Hilfe des social network importer NodeXL (für Facebook) und der Suchmaschine topsy (für Twitter) wurden rund 1200 posts als screenshots gesammelt und zur weiteren Bearbeitung gespeichert. Die Wissenschaftlerinnen untersuchen, in welcher Form (liking und favoriting, sharing und retweeting, commenting und answering) welche Art von Beiträge (Text, Link, Foto, Video) kommuniziert werden. Außerdem interessiert die Reichweite der Kommunikation: Findet sie tatsächlich transnational statt, was etwa unterstellt wird, wenn Occupy als globale Bewegung verstanden wird, oder handelt es sich um überwiegend nationale Vernetzungen?
Die Politikwissenschaftlerinnen der Uni Hildesheim untersuchen mit diesem Projekt, welche Funktion genau soziale Medien im Kontext des Protestes nach der Finanzkrise gespielt haben. Tragen sie zum inhaltlichen Diskurs und zur transnationalen Beratschlagung und Debatte bei? Erfüllen sie eher organisatorische Funktionen, etwa bei der Vorort-Kommunikation der Proteste? Oder dienen sie dazu, identitätsstiftende Symbole und Emotionen – wie Empörung – zu verbreiten?
„Erste Ergebnisse der Analyse von etwa 1200 Posts zeigen, dass die inhaltliche Auseinandersetzung und der Diskurs nicht im Vordergrund standen, denn die überwiegende Interaktion bestand im liking bei Facebook und retweeting bei Twitter. Wenn soziale Medien, genauer Facebook und Twitter, Deliberation fördern sollen, müsste hingegen das commenting bei Facebook oder answering bei Twitter stärker genutzt werden, damit Austausch über Inhalte stattfinden kann“, sagt Marianne Kneuer. In solchen inhaltlichen Debatten könnten etwa politische Entscheidungen kritisiert, Forderungen an nationale oder globale Akteure herangetragen und alternative Lösungen formuliert werden. Erste inhaltliche Analysen zeigen jedoch vielmehr, dass von einer starken Funktion sozialer Medien für die Vermittlung von Symbolen und Emotionen auszugehen ist. So wird zum Beispiel deutlich, dass neben Gefühlen wie Empörung über die Banken und das Bankensystem auch Verunsicherung transportiert werden; gleichermaßen eine generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System und seinen Reaktionen auf die Finanzkrise. Eine wichtige Rolle bei der Online-Kommunikation spielt zudem die Mobilisierung über affektive Ansprache. Die Projektleiterinnen vermuten daher, dass die Empörungsbewegungen nicht danach streben, auf einer inhaltlichen Ebene politische Lösungen zu debattieren, sondern schlichtweg ihre Empörung zu artikulieren und eine breitere Öffentlichkeit dafür zu mobilisieren. Sollten die weiteren Analysen diesen ersten Befund bestätigen, dann wäre das ein Beleg dafür, dass soziale Netzwerke weniger als erwartet diskursive oder deliberative Demokratiemodelle stützen – zumindest innerhalb von Protestbewegungen.
Auf internationalem Terrain bewegen sich weitere Forschungen von Hildesheimer Politikwissenschaftlern. So erläutert Prof. Dr. Thomas Demmelhuber zusammen mit der ägyptischen Wissenschaftlerin Dr. Hanan Badr von der Universität Kairo am Fallbeispiel Ägypten den Einfluss von sozialen Medien auf demokratische Transformationsprozesse. Sie erläutern die Funktionen sozialer Medien in autoritären Regimen und Herrschaftstypen während Umbruchsphasen. So wird etwa deutlich, dass soziale Medien in den einzelnen Phasen politischer Transformation variierende Funktionen erfüllen und keineswegs aus sich selbst heraus einen Weg in Richtung Demokratisierung verstärken. Thomas Demmelhuber ist außerdem in dem Panel „Electoral Politics and State-Building: Authoritarianism and Democratization in the Muslim World“ vertreten, wo er über die herrschaftspolitische Dauerhaftigkeit der Monarchien auf der arabischen Halbinsel sprechen wird und jenseits bekannter Faktoren wie zum Beispiel Ressourcenreichtum über Besonderheiten der Staatsbildung und spezifische soziale Ordnungsmuster zu erklären versucht.
Weltkongress / Weitere Informationen:
Der 23. Weltkongress der Politikwissenschaft (IPSA) zum Thema „Challenges of Contemporary Governance“ (Herausforderungen im gegenwärtigen Regieren) findet vom 19. bis 24. Juli 2014 in Montreal, Canada, statt. Die Professoren Marianne Kneuer und Oscar Luengo leiten das Panel „Social Media and Their Influence on the Quality of Democracy“. Das Fach Politikwissenschaft der Hildesheimer Universität ist mit drei Vorträgen auf dem Kongress vertreten.
Info: Internet und Politik
Die Forschergruppe „Internet und Politik“ an der Universität Hildesheim untersucht, welche Rolle das Internet in politischen Prozessen spielt, etwa im Nahen Osten und beim Regimewandel in Ägypten oder im Wahlkampf vor der Haustür. Die Politikwissenschaftler gehen der Frage nach, wie im Internet Meinungsbildungsprozesse angestoßen und Entscheidungen getroffen werden können und beobachten, wie Politiker soziale Online-Medien nutzen. Die Professoren Marianne Kneuer und Thomas Demmelhuber untersuchen die Rolle Neuer Medien in Transformations- und Demokratisierungsprozessen.
Lesetipp:
„Das Internet: Bereicherung oder Stressfaktor für die Demokratie?“
(2013, Nomos-Verlag, Hg. von Marianne Kneuer)
Der Sammelband geht der Frage nach, welche Wirkung die neuen Formen vernetzter Kommunikation auf die demokratischen Prozesse haben: Kann das Internet Defizite oder Fehlentwicklungen heutiger Demokratien beheben und so Demokratie bereichern? Oder ergeben sich aus der Funktionslogik des Internets Stressfaktoren, da demokratische Strukturen geschwächt und demokratische Prozesse unterminiert werden?
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