Rede von Bundesratspräsident Stephan Weil in der 6. Subsidiaritätskonferenz des Ausschusses der Regionen
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Herr Präsident Valcárcel Siso,
sehr geehrter Herr Vizeaußenminister Leskevicius,
sehr geehrter Herr Vizepräsident Wieland,
sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses der Regionen,
sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates,
sehr geehrte Mitglieder der nationalen und regionalen Parlamente und Regierungen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zur 6. Subsidiaritätskonferenz des Ausschusses der Regionen begrüße ich Sie sehr herzlich im deutschen Bundesrat. Vor fast 10 Jahren, nämlich am 27. Mai 2004, hat der Ausschuss der Regionen hier im Bundesrat seine allererste Subsidiaritätskonferenz veranstaltet. Ich freue mich, dass der Bundesrat zum zweiten Mal Ihr Gastgeber sein darf, und ich hoffe, dass Sie sich hier wohlfühlen werden.
Neben hochrangigen Vertretern der Europäischen Institutionen und Repräsentantinnen und Repräsentanten aus über 20 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind auch Vertreterinnen und Vertreter aus der Schweiz und der Türkei anwesend. Das ist nicht nur ein großer Erfolg für den Ausschuss der Regionen als Veranstalter, sondern auch ein deutliches Zeichen für die hohe Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatzes in den Europäischen Institutionen und Mitgliedstaaten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Vor zehn Jahren stand die Europäische Union ganz im Zeichen des Europäischen Verfassungsvertrages. Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Laeken im Jahr 2001, der Europäische Konvent in den Jahren 2002 und 2003 sowie die Regierungskonferenz in den Jahren 2003 und 2004 bestimmten damals die europapolitische Agenda.
Auch damals wurde über die Zukunft Europas gestritten, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen als heute. Damals galt es, die Europäische Union und ihre Institutionen auf den Beitritt vieler neuer Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa vorzubereiten. Dazu ging man den Weg der weiteren Integration und man nahm dabei auch ein Scheitern in Kauf. Leider hat sich dieses Risiko dann mit den ablehnenden Referenden in den Niederlanden und Frankreich im Jahr 2005 realisiert.
Heute handeln wir unter dem Druck der europäischen Staatsschulden- und Bankenkrise und wir haben die stetig steigende Zahl von Europaskeptikern in der Bevölkerung und in den Parlamenten fest im Blick. Daher schließen wir derzeit – vielleicht etwas verzagt, aber ich meine richtigerweise – weitere tiefgreifende vertragliche Reformen aus.
Eines hat die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre aber gezeigt: Wir müssen wegkommen von einem Europa der Eliten, wir müssen hinkommen zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger. Dazu enthielt schon der Europäische Verfassungsvertrag Elemente wie das europäische Bürgerbegehren oder die Stärkung des Europäischen Parlaments oder – ein zentrales Thema unserer heutigen Konferenz – die Beteiligung der nationalen Parlamente am europäischen Rechtsetzungsprozess. Diese wichtigen und positiven Elemente des Europäischen Verfassungsvertrages sind fast unverändert in den Vertrag von Lissabon übernommen worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Bei Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon vor etwas mehr als vier Jahren am 1. Dezember 2009 bestand große Unsicherheit, ob das Subsidiaritätsfrühwarnsystem der nationalen Parlamente angesichts der hohen Quoren und der kurzen Rügefrist überhaupt funktionieren kann. Es hat über vier Monate gedauert, bis ein nationales Parlament die erste begründete Stellungnahme abgegeben hat. Und ich darf nicht ohne Stolz darauf hinweisen, dass diese Stellungnahme vom deutschen Bundesrat beschlossen wurde.
Heute können wir feststellen, dass das Subsidiaritätsfrühwarnsystem zunehmend besser funktioniert. Es hat seine Funktionsfähigkeit, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mittlerweile in zwei Fällen unter Beweis gestellt: Im vergangenen Jahr zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine sogenannte Monti-II-Verordnung und in diesem Jahr zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über die Errichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft.
Wir müssen aber auch feststellen, dass nicht alle nationalen Parlamente das Instrument der Subsidiaritätsrüge aktiv nutzen. Im vergangenen Jahr entfielen fast 50 Prozent aller Subsidiaritätsrügen auf drei nationale Parlamente, den schwedischen Reichstag, den französischen Senat und den deutschen Bundesrat. Die nationalen Parlamente von neun Mitgliedstaaten haben dagegen überhaupt keine begründeten Stellungnahmen abgegeben.
Weiterhin müssen wir feststellen, dass die Einbindung der regionalen Parlamente mit Gesetzgebungskompetenzen – und in Deutschland sind dies immerhin 16 Länderparlamente – in dieses Subsidiaritätsfrühwarnsystem bisher nur in geringem Umfang gelungen ist. Denn dafür ist die durch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gesetzte Acht-Wochen-Frist einfach zu kurz.
Und schließlich bestehen immer noch Probleme bei der Koordinierung zwischen den nationalen Parlamenten. Denn trotz der IPEX-Datenbank oder dem Netzwerk der Repräsentanten der nationalen Parlamente bei der EU – also den Monday-Morning-Meetings – bleibt es letztlich immer noch ein Stück weit dem Zufall überlassen, ob die nationalen Parlamente eine gelbe Karte zeigen oder nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
In den vergangenen zehn Jahren hat sich auch bei den Europäischen Institutionen mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip manches getan:
Die Europäische Kommission hat im Jahr 2006 einen Ausschuss für Folgenabschätzung eingesetzt. Dieser Ausschuss hat sich im vergangenen Jahr in einem Drittel seiner Stellungnahmen mit dem Thema Subsidiarität beschäftigt. Das Europäische Parlament hat seinerseits im vergangenen Jahr eine neue Direktion geschaffen, um die Parlamentsausschüsse bei Folgeabschätzungen und Bewertungen des europäischen Mehrwerts zu unterstützen. Und schließlich hat der Ausschuss der Regionen neben dem bereits im Jahr 2007 eingerichteten Netz für Subsidiaritätskontrolle einen Lenkungsausschuss und eine Expertengruppe Subsidiarität eingerichtet.
All das zeigt: In Sachen Subsidiarität hat sich in den europäischen Institutionen manches getan. Aber ob man schon von einem Bewusstseinswandel sprechen kann? Offengestanden habe ich meine Zweifel. In unverändert vielen Fällen bemüht sich die Kommission um die Regelung von Sachverhalten, die gut und gerne auch auf der nationalen Ebene geklärt werden könnten. Das bereitet mir Sorgen – nicht nur im Einzelfall, sondern durchaus auch generell.
Ein Europa mit dem Anspruch, alles regeln zu wollen, jedenfalls aber zu viel regeln zu wollen, wird nicht die Herzen seiner Bürger erreichen – da bin ich mir sicher. Auch wenn es paradox klingen mag: Der Einsatz für mehr Subsidiarität ist auch ein Einsatz für mehr Europa.
Der heutige Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt mir, weil wir in der Bundesrepublik Deutschland tagen, Anlass auf ein Beispiel hinzuweisen. Die EU-Kommission wird, so hört man heute, ein Beihilfeverfahren wegen eines Details der deutschen Energiepolitik einleiten, das, wenn es konsequent betrieben und durchgesetzt wird, am Ende in Deutschland viele tausend industrielle Arbeitsplätze kosten könnte. Und das, wage ich zu prognostizieren, wird die Zuneigung zu Europa in unserem Land nicht stärken. Wir sollten zusehen, dass die Europäischen Institutionen – insbesondere die Kommission – nicht an einem Ast sägt, auf dem wir in Europa alle miteinander sitzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Seit der letzten Subsidiaritätskonferenz hat sich manches getan beim Thema Subsidiarität. Aber es bestehen noch große Herausforderungen, die ich soeben sicherlich nicht abschließend skizziert habe. Mit diesen Herausforderungen werden Sie sich heute beschäftigen. Dazu möchte ich Ihnen gute Beratungen und neue, weiterführende Erkenntnisse wünschen.
Möglicherweise sehen wir uns in zehn Jahren hier wieder im Bundesrat, um uns dann über die Fortschritte der kommenden zehn Jahre auf dem Gebiet der Subsidiarität auszutauschen. Ich bin überzeugt davon, dass der Bundesrat jederzeit wieder gern Gastgeber einer solchen Konferenz sein wird. Und ich würde mich freuen, wenn Sie jederzeit wieder gern nach Berlin zurückkehren werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Damit übergebe ich das Wort an den Präsidenten des Ausschusses der Regionen, Herrn Ramón Luis Valcárcel Siso.
Herzlichen Dank!
Bundesrat
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