LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (22.11.2011)
Berlin. Die stellvertretende Vorsitzende der FDP, Bundesjustizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (heutige Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag.
Ein zweites Verfahren darf nicht scheitern
Die politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus läuft Gefahr, immer gleich und geradezu reflexartig in Wellen stattzufinden: Nach einer Straftat folgt die öffentliche Verurteilung, danach kommen politische Forderungen, ein NPD-Verbot müsse zügig eingeleitet werden. Ein paar Tage später ist die Meldung schon auf die hinteren Seiten verbannt. Daran zeigt sich auch die Überforderung unserer Gesellschaft im Umgang mit dem Rechtsextremismus. Dieser Debattenverlauf wird unserer besonderen historischen Verantwortung nicht gerecht. Es gibt Besonderheiten, die wir verstehen müssen, um richtige Antworten zu finden.
Die rechte Szene hat sich gewandelt. Neonazis treten heute mit Biedermeiergesicht auf und besetzen vermeintlich soziale Themen. In einigen Gebieten in den neuen Bundesländern ergänzen so genannte Kameradschaften die soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche. Sie versuchen das Freizeitverhalten der Mitglieder zu formen und soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Rechtsextreme bedienen sich an Elementen der Alltagskultur und spielen mit ihnen. Gelegentlich werden sogar Aktionsformen der extremen Linken übernommen, wie der „schwarze Block“ Hamburg gezeigt hat. In den neuen Bundesländern gab es immer wieder Versuche, den Alltag einzelner Dörfer und Städte zu dominieren. NPD und DVU versuchten auf einem teilweise neuen Niveau die Medien zu benutzen, um mit gezielten Provokationen Aufmerksamkeit zu erreichen. Das galt insbesondere bei dem grobschlächtigen Versuch im März 2005, die fürchterlich zerstörerische Bombardierung Dresdens durch die Alliierten zur Relativierung des Holocaust zu missbrauchen. Wie der Wahlerfolg der NPD im Saarland im September 2004 oder das geplante Bombenattentat der neonazistischen „Kameradschaft Süd“ in München im September 2003 zeigen, wäre es aber leichtfertig, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus als ein rein ostdeutsches Phänomen zu bezeichnen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen beklagen seit Jahren einen Trend, dass das Ausmaß rechter Gewalttaten seit Jahren kontinuierlich und in Besorgnis erregender Weise ansteigt. Außerdem konnte die NPD ihre Wahlergebnisse immer wieder verbessern. Zwar schaffte sie es nie in den Deutschen Bundestag; in wenigen Landtagen scheint sie sich jedoch festzusetzen. Die rechte Szene, das hat die sozialwissenschaftliche Forschung immer wieder diskutiert, besteht zum Teil aus Menschen, die mit dem Strukturwandel nicht Schritt halten und dadurch verführbarer für autoritäre Reflexe und für schlichte Deutungen der Welt werden. Auch wenn das nur eine Facette in der Ursachenforschung ist, gilt: Einfach zwischen der rechtsextremen Partei und deren Wähler zu unterschieden und dabei den Wählern das Motiv des reinen unideologischen Protests zu unterstellen, gibt vor, ein Parteienverbot würde das Problem lösen. Das ist in der Analyse zu einfach und greift auch politisch zu kurz.
Selbstverständlich kann man über ein NPD-Verbotsverfahren diskutieren, wenn das Problem gelöst wird, dass bis in die höchste Ebene der NPD V-Leute zum Einsatz kommen. Beides können wir nicht haben: V-Leute bis in höchste NPD-Ebenen und ein NPD-Verbot. Das ist seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2003 bekannt. Auf keinen Fall dürfen wir das Risiko eingehen, dass erneut ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert.
Warum die Taten der Zwickauer Zelle so lange nicht aufgeklärt wurden, das muss jetzt mit aller Härte und ungeachtet des Ansehens einzelner Institutionen aufgeklärt werden. Wir sind es den Opfern schuldig, schnell ein vollständiges Bild zu erhalten, um dann auch Konsequenzen zu ziehen. Neue einheitliche Regeln für den Einsatz von V-Leuten und die Umstrukturierung des Verfassungsschutzes sind nur der Anfang der Debatte. So wichtig diese Antworten sind, weil sie die Defizite auf Vollzugsebene in den Blick nehmen, so wenig dürfen sie den Blick auf die Ursachen verstellen.
Schließlich gehört zu den größten Gefahren, denen die moderne Gesellschaft ausgesetzt ist, der schleichende Verlust der Freiheit. Damit soll nicht behauptet werden, Liberalität, Toleranz und das Austragen von Konflikten nach rechtsstaatlichen Regeln gehörten heute nicht zum Alltag. Nur: Eine offene Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie der universelle Wert der Unantastbarkeit der Menschenwürde in die gesellschaftliche Realität umgesetzt wird.
Sophie Scholl sagte in ihrer Verhandlung vor dem Volksgerichtshof: „Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen.“
Wer damals dem Nationalsozialismus widersprach, begab sich in Lebensgefahr und viele, die es dennoch taten, kamen deswegen um. Heute leben wir in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Wir, die wir für unser demokratisches Gemeinwesen eintreten, sind die Mehrheit und die, die rechtsextrem, fremdenfeindlich denken und gewalttätig sind, die Minderheit.
Dieser Minderheit darf kein Fußbreit Raum gelassen werden. Alle demokratischen Parteien müssen deutlich machen, dass fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Zwischentöne in der politischen Auseinandersetzung nichts verloren haben. Aus der Mitte der Gesellschaft müssen solche dumpfen Ressentiments bekämpft werden.
Weil der Rechtsextremismus auch Netzwerke bis in die Mitte der Gesellschaft aufzuspannen versucht, muss die Ursachenbekämpfung tiefer ansetzen. Rechtsextreme können auf Strukturen aufbauen, die eine bürgerliche Fassade in der Mitte der Gesellschaft vortäuschen. Rechtsextreme Gewalttaten bedienen sich der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus.
Die Bekämpfung des internationalen Islamismus eignet sich nicht als Blaupause für die Bekämpfung des Rechtsextremismus.
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