Leere nach der Erziehungshilfe: Unterstützung für Jugendliche aus Pflegefamilien und Heimen
Sie wachsen im Heim, in der Pflegefamilie, in betreuten Wohngruppen auf; manche haben einschneidende Ereignisse erlebt – Gewalt, Todesfälle in der Familie, Missbrauch. Eine Forschergruppe der Universität Hildesheim geht der Frage nach, was aus Kindern und Jugendlichen wird, die die „stationäre Erziehungshilfe“ verlassen. Im englischsprachigen Raum werden sie als „Care Leaver“ (= Menschen, die Hilfen verlassen) bezeichnet. Bisher fehlen in Deutschland Daten über ihren Weg in die Selbständigkeit. Auch die deutsche Kinder- und Jugendhilfestatistik gibt keine genauere Auskunft über ihren Verbleib und berufliche Werdegänge. Auffällig ist: Die jungen Leute sind überproportional von Bildungsbenachteiligung betroffen. Knapp ein Drittel der jungen Erwachsenen besuchen zum Zeitpunkt der Beendigung der Hilfe weder eine Schule noch machen sie eine Ausbildung oder erhalten eine Berufsförderung. Den Weg in ein Hochschulstudium schaffen ebenfalls deutlich weniger Care Leaver als der Durchschnitt. Und von ihnen wird trotz dieser Bildungsbarrieren früh viel erwartet – Maßstab ist ein selbstständiges Leben im eigenen Wohnraum mit 18 Jahren.
„Die Jugendlichen können in ihrer Bildungslaufbahn nur bedingt auf familiäre Unterstützung zurückgreifen“, sagt Dr. Severine Thomas. „Die Biographien sind sehr unterschiedlich, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: die Hilfen enden abrupt. Von heute auf morgen stecken sie in einer fragilen Lebenslage – in der Regel mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Bei vielen bricht das Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Denn nach dem Ende der Erziehungshilfe können viele auf kein gesichertes familiäres und sozial gewachsenes Netz zurückgreifen und sind früh auf sich alleine gestellt“, sagt Thomas. Manche fühlen sich sozial isoliert und in den eigenen vier Wänden nicht wohl, manchen droht der Wohnungsverlust. Andere klopfen bei der Herkunftsfamilie an – und werden enttäuscht. „Wir wissen bisher nicht, was aus den Jugendlichen wird – und vor allem fehlen adäquate Übergangsmodelle“, fasst Severine Thomas zusammen.
Eine Forschergruppe um den Sozialpädagogen Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim erhebt seit 2012 gemeinsam mit dem Fachverband „Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen“ erstmals im Rahmen eines Monitorings die Lage in Deutschland. In der Studie „Nach der stationären Erziehungshilfe – Unterstützungsmodelle für Care Leaver in Deutschland“ haben die Forscher im In- und Ausland nach gelungenen Übergangsmodellen gesucht. „Die gibt es“, sagt Severine Thomas.
Die Forscher haben zunächst Übergangspraxen in Deutschland erfasst und dabei die Jugendhilfeorganisationen im Blick – so wurden 47 Experteninterviews geführt. Den Übergang in die eigene Wohnung zu erleichtern – das sei bereits üblich, sagen Verantwortliche aus betreutem Wohnen und Erziehungsstellen. So lernen die Jugendlichen, Wäsche zu waschen und mit Finanzen umzugehen. „Aber es fehlen verlässliche Wegbegleiter – Menschen, die die Jugendlichen auch außerhalb des formalen Hilfesystems unterstützen und sich nach der Jugendhilfe für sie zuständig fühlen“, sagt Thomas. „In kaum einer Einrichtung gibt es die Chance, nach dem Übergang in eine eigene Wohnung vorübergehend in die stationäre Hilfe zurückzukehren“, kritisiert sie. In Krisensituationen wäre dies aber durchaus sinnvoll. In Einzelfällen werde ehrenamtliche Unterstützung durch die Einrichtungsvertreter angeboten, dies ist aber nicht verbindlich und häufig auf einmalige Unterstützung begrenzt. Wie die jungen Menschen nach der Erziehungshilfe ihren Weg weiter gestalten- dazu existieren keine systematischen Informationen.
Parallel zur nationalen Datenerhebung wurden die Praxis der Übergangsbegleitung in anderen Ländern erfasst und Transfermöglichkeiten in das deutsche Hilfesystem geprüft.
Etwa wird in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Schweiz daran gearbeitet, dass Menschen, die Kindern nahe stehen wie die Tante oder der Nachbar, schon während der Erziehungshilfe eine stabile Beziehung zu ihnen aufbauen. Diese „persons of reference“ geben den jungen Menschen ein sicheres Gefühl, dass jemand da ist, wenn sie Hilfe brauchen. In Israel unterhält etwa eine Sozialpädagogin ein „offenes Haus“, ein niedrigschwelliges Angebot für Beratung, wo Jugendliche schlafen, essen und sich treffen können. Diese Orte des Zurückkommens sind für Care Leaver wichtige Ressourcen im Übergang. „In Norwegen haben die jungen Erwachsenen Anspruch auf Hilfe bis zum 23. Lebensjahr – dies ist gesetzlich geregelt, das Jugendamt muss begründen, wenn Hilfen früher enden sollen und ist verpflichtet, regelmäßig bei den Betreffenden nachzufragen, was aus ihnen geworden ist und den jungen Menschen auch aufs Neue weitergehende Hilfe anzubieten“, berichtet Severine Thomas. Damit ist auch denjenigen, die vielleicht vorübergehend müde sind, solche Hilfen zu erhalten, eine weitergehende Hilfe perspektivisch nicht verschlossen. In Deutschland enden Hilfen hingegen mit 18, spätestens mit 21 Jahren, doch diese Zeitspanne wird längst nicht ausgeschöpft. In Großbritannien geht es zum Beispiel um eine ganzheitlichere Lebensplanung (pathway planning). Zwar muss auch in Deutschland mindestens halbjährlich eine „Hilfekonferenz“ stattfinden, in der ein Vertreter des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamts, die Eltern, eine Betreuungsperson der Einrichtung, natürlich der Jugendliche selbst und ggf. ein Therapeut oder ein Lehrer zusammenkommen, um die weitere Hilfe des Jugendlichen zu „planen“. Allerdings sind diese Hilfeplangespräche begrenzt auf die Zeit der Erziehungshilfe. Dann endet auch diese Form der Entwicklungs- und Lebensplanung abrupt. Mit dem „Pathwayplanning“ existiert in Großbritannien ein Instrument, das über den engeren Hilfekontext hinaus fortgeschrieben werden muss. Diese Planung ist Teil des Prinzips der „Corporate Parentship“, nach dem die öffentlichen Hilfeinstitutionen all die Unterstützung gemeinschaftlich und stellvertretend anbieten sollen, die normalerweise Eltern für ihre Kinder übernehmen.
In Deutschland verhält es sich mit den Hilfen für junge Erwachsene deutlich anders: „Mit der Volljährigkeit müssen die Care Leaver eigenverantwortlich leben können – ungeachtet ihrer biografischen Voraussetzungen, Schul- und Ausbildungssituation. Jugendämter forcieren diesen Prozess – was sich auch in dem Terminus ?Verselbstständigung ausdrückt“, sagt Thomas. Diese Praxis widerspricht dem Trend einer verlängerten Jugendphase und einem längeren Verbleib junger Menschen im elterlichen Haushalt, bevor sie in der Lage sind, ökonomisch und sozial auf eigenen Beinen zu stehen. Im Bundesdurchschnitt ziehen Männer mit etwa 25,1 Jahren, Frauen mit etwa 23,9 Jahren aus dem elterlichen Haushalt aus.
Auch Universitäten beachten diese Lebenslagen kaum, wie aus einem zweiten Forschungsprojekt („Higher Education without Family Support“) hervorgeht. Einige schaffen es dennoch an die Hochschulen. Eine Forschergruppe der Universität Hildesheim baut gemeinsam mit Studierenden aus ganz Deutschland seit 2012 das bundesweite Netzwerk „Care Leavers in Deutschland“ auf. Sie entwickeln Informationsmaterial, einen Flyer, drehen einen Film und geben Tipps, zum Beispiel, wie man einen Bafög-Antrag stellen kann, ohne die Einkommensnachweise der Eltern vorlegen zu müssen.
Mit 17 Studierenden wurden biografische Interviews geführt. In einer Studie mit rund 250 Jugendlichen, die derzeit in Jugendhilfeeinrichtungen leben, untersuchen die Sozialpädagogen zudem, welche Unterstützung die 16-Jährigen auf ihrem Bildungsweg erhalten und welche Erwartungen an sie gestellt werden. Ergebnisse werden im Frühjahr 2014 erwartet.
Am 5. Dezember stellen die Universität Hildesheim und die IGFH die Forschungsergebnisse auf einer Konferenz in Berlin vor. Ergebnisse werden für die Jugendpolitik aufbereitet. Am gleichen Wochenende findet das nächste Treffen des Care Leaver-Netzwerks statt. Weitere Forschungsergebnisse werden 2014 erwartet.
Programm und Ort der Konferenz am 05.12.2013 in Berlin:
http://www.uni-hildesheim.de/media/presse/Ergebnisse_Berlin_Was_kommt_nach_der_Erziehungshilfe_Uni_Hildesheim.pdf
Gespräche mit den Forschern und betroffenen jungen Erwachsenen sind ab 9:00 Uhr möglich.
Weitere Informationen zu den zwei Forschungsprojekten:
„Nach der stationären Erziehungshilfe – Care Leaver in Deutschland. Internationales Monitoring und Entwicklung von Modellen guter Praxis zur sozialen Unterstützung für Care Leaver beim Übergang ins Erwachsenenalter“
www.uni-hildesheim.de/careleaver
„Higher Education without Family Support. Junge Erwachsene mit Jugendhilfe-erfahrung an deutschen und israelischen Hochschulen“
www.uni-hildesheim.de/hei-careleavers
Film des Careleaver-Netzwerks:
Kurzinfo über das Netzwerk ab Min 6:30; Biographien von Studenten ab Min 10:30):
www.uni-hildesheim.de/media/fb1/sozialpaedagogik/Forschung/care_leaver/careleaver_HDTV.mp4
Betroffene Jugendliche und Studierende können sich wenden an:
Benjamin Strahl (E-Mail strahl@uni-hildesheim.de) und Katharina Mangold (E-Mail mangoldk@uni-hildesheim.de) vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Die beiden Wissenschaftler begleiten das Netzwerk.
Kontakt zu den Forschern:
Pressestelle
Universität Hildesheim
Isa Lange
presse@uni-hildesheim.de
05121.883-90100 und 0177.8605905
http://pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?r=552042&aktion=jour_pm