„Ein BEM führe ich nicht durch!“ – Welche Möglichkeiten haben betroffene Arbeitnehmer*innen gegenüber dem Arbeitgeber?

Arbeitnehmer*innen, die mehr als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren, haben keinen individuell durchsetzbaren Anspruch auf Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) gegen den Arbeitgeber.
(Leitsatz der Verfasserin)
BAG, Urteil vom 07.09.2021 – 9 AZR 571/20

Die gesetzliche Regelung des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sieht vor, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, bei Beschäftigten, die innerhalb von 12 Monaten länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren, zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz er-halten werden kann. Soweit die Theorie. Aber was können betroffene Beschäftigte machen, wenn Arbeitgeber dieser Verpflichtung in der Praxis nicht nachkommen?

Der betroffene Kläger war 2018 an 122 Arbeitstagen krankheitsbedingt arbeitsunfähig, im Jahr 2019 bis zum August an 86 Arbeitstagen. Mit anwaltlichem Schreiben verlangte der Kläger von der Arbeitgeberin im August 2019 die Durchführung eines BEM. Die Arbeitgeberin lehnte dies ab. Daraufhin erhob der Beschäftigte gegen die Arbeitgeberin eine Klage auf Durchführung eines BEM. Die Vorinstanz – das LAG Nürnberg – hatte die Klage abgewiesen. Bei einem ähnlich gelagerten Sachverhalt hatte das LAG Hamm einer solchen Klage stattgegeben. Es war daher erforderlich, dass das Bundesarbeitsgericht diese Fragestellung höchstrichterlich klärt.

Das BAG hat die Klage als unbegründet zurückgewiesen. Es hat dabei vor allem auf den Wortlaut und die Systematik des § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX abgestellt, nach dem Betriebs- oder Personalrat, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, die nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gebotene Klärung verlangen können. Die Interessenvertretungen wachen nach § 167 Abs. 2 Satz 8 SGBIX darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt. Entsprechende Rechte und Aufgaben sieht die gesetzliche Regelung für die betroffenen Arbeitnehmer nicht vor.

Soweit schwerbehinderte Beschäftigte betroffen sind, sieht das BAG mit dieser Auslegung des § 167 Abs. 2 SGB IX auch keinen Widerspruch zu den Bestimmungen der europäischen Richtlinie 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Diese sieht vor, dass die Mitgliedstaaten angemessene Vorkehrungen treffen müssen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nach Auffassung des BAG werden die Verfahrensregelungen des § 167 Abs. 2 SGB IX diesem Auftrag gerecht, auch wenn sie keinen individuell einklagbaren Anspruch enthalten. Denn ein Arbeitgeber, der seiner Verpflichtung zur Durchführung eines BEM nicht nachkommt, wird in seinen weiteren Argumentationsmöglichkeiten beschränkt. Er könne sich – falls er ein Beschäftigungsverlangen des Betroffenen abwehren will oder diesem krankheitsbedingt kündigen will – nicht darauf beschränken vorzutragen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den Arbeitnehmer und es gebe keine Arbeitsplätze, die dieser mit seinem Leistungsvermögen ausfüllen könne, oder es sei mit einer Verringerung von Fehlzeiten nicht zu rechnen. Er muss vielmehr umfassend und konkret vortragen, warum ein – von ihm nicht durchgeführtes – BEM in keinem Fall hätte dazu beitragen können, die Beschäftigungsmöglichkeit des Betroffenen zu erhalten.

Fazit:
Auch wenn einem das Ergebnis nicht gefällt: die Entscheidung des BAG ist in der Begründung stichhaltig. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, diese Lücke zu füllen und den § 167 Abs. 2 SGB IX um einen individuell einklagbaren Anspruch betroffener Beschäftigter zu füllen. Dass der Gesetzgeber zu Nachbesserungen in der Lage ist, sieht man auch in dem im Jahr 2021 ergänzten Satz in § 167 Abs. 2 SGB IX, dass Betroffene berechtigt sind, Vertrauenspersonen zum BEM hinzuzuziehen. Ohne Änderungen des Gesetzestextes hängt es vor allem von Betriebs- und Personalräten sowie Schwerbehindertenvertretungen ab, ihre Möglichkeiten zu nutzen und bei betroffenen Beschäftigten darauf hinzuwirken, dass ein von ihnen gewünschtes BEM auch durchgeführt wird.

Sigrid Britschgi
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