Brasilien vor Olympia: Prof. Dr. Christopher Stehr im Interview

„Ein Engagement in Brasilien lohnt sich immer noch“, Heilbronn, 16. Juni 2016

Brasilien vor Olympia: Prof. Dr. Christopher Stehr im Interview

In 50 Tagen beginnen die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro. Doch aktuell befindet sich Brasilien in einer Wirtschaftskrise, das politische System scheint nach Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff zum Einsturz gebracht. Christopher Stehr, Professor für Internationales Management an der German Graduate School of Management and Law (GGS) und Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu Brasilien, war vor wenigen Wochen als Leiter der GGS-Studienreise vor Ort und äußert sich im Interview zur Situation in einem Land zwischen Hoffen und Bangen.

Brasilien wird derzeit durch mehrere Krisen erschüttert. Wie kam es dazu?
Manche Brasilianer sprechen sogar von einer „Totalkrise des Systems“, weil es sich in ihren Augen um verschiedene Krisen handelt, die miteinander zusammen hängen. Die systemische Krise besteht aus der wirtschaftlichen Krise – der schlimmsten Rezession seit mehreren Jahrzehnten – und der politischen Krise, die aktuell weite Teile des politischen Systems erfasst hat. Betroffen sind davon nicht nur zahlreiche politische Akteure, sondern auch die demokratischen Institutionen bis hin zur Verfassung Brasiliens. Die Verstrickungen der politischen Klasse in Korruptionsfälle sind enorm. Jetzt leiden vor allem große Baufirmen und der staatliche Ölkonzern Petrobras darunter. Im Zuge der Ermittlungen mussten sie im Rahmen radikaler Sparmaßnahmen tausende von Angestellten entlassen, weil Aufträge vom Staat und den korrupten Politikern ausblieben. Die wirtschaftliche Krise hat interne und externe Ursachen. Intern verhindern Bürokratie, fehlender internationaler Wettbewerbsdruck, eine hohe Steuerlast und Vetternwirtschaft viele Investitionen wie beispielsweise in wichtige Infrastrukturprojekte. Extern drücken die schlechten Weltmarktpreise für brasilianische Rohstoffe wie Öl, Kaffee, Erz oder Soja auf das brasilianische Handels- und Einkommensgemüt. Und natürlich leidet auch die Investitionsfreudigkeit der globalen Investoren unter den politischen Skandalen.

Sie haben die Situation vor Ort in mehreren Städten Brasiliens miterlebt. Herrscht dort eher Resignation oder Aufbruchsstimmung?
Meiner Meinung nach halten sich Resignation und Aufbruchsstimmung aktuell die Waage. Die Befürworter des mittlerweile erfolgreich umgesetzten Amtsenthebungsverfahrens dürften sich freuen und es als Impuls für weitgreifende Veränderungen im Land sehen. So hat Übergangspräsident Michel Temer gleich seine Regierung der nationalen Erneuerung vorgestellt. Andere sehen das Land nun zu 180 Tagen Stillstand verdammt, weil das Impeachmentverfahren so lange bis zu einer endgültigen Entscheidung braucht. Bleibt eine scheinbar banale, aber doch berechtigte Frage: Wer wird die Olympischen Sommer-spiele eröffnen? Ist bis in 50 Tagen noch ein ranghoher Politiker übrig, der nicht zurück treten musste? Auch von der neuen Temer-Regierung mussten jetzt schon zwei Minister zurücktreten: Darunter ausgerechnet der im Kabinett für Korruption zuständige Minister – und zwar wegen eines Korruptionsskandals.

Wie wichtig sind die Olympischen Sommerspiele für den fünftgrößten Staat der Erde?
Olympia kann für Brasilien ein weiteres Mal die Gelegenheit sein, sich im Rahmen eines globalen Sportereignisses „als schickes Schaufenster der Welt“ herauszuputzen und der Welt zu zeigen, dass Brasilien zwei Jahre nach der Fußball-WM wieder in der Lage ist, ein Großevent erfolgreich durchzuführen. Aktuell spielen die Olympischen Spiele im Alltag der Brasilianer aufgrund der Krise eher noch eine geringe Rolle, immerhin droht der neuen Mittelschicht der soziale Abstieg. Da kümmert man sich eher um die Rückzah-lungsraten des Bankkredites als um ein Olympiaticket. Sollten bei Olympia das brasilianische Volleyballteam oder sogar das Fußballteam eine gute Figur machen, werden die Brasilianer aber die ersten sein, die mit ihrem unumstößlichen Optimismus ihr Team uneingeschränkt anfeuern werden.

Obwohl in der Vergangenheit durch Umverteilungsprogramme viele Arme in die Mittelschicht aufstiegen, gibt es in Brasilien enorme Einkommensunterschiede. Welche Auswirkungen hat dies auf den sozialen Frieden im Land?
Die Einkommensunterschiede in Brasilien haben sich in den letzten Jahren zwar abgeschwächt, der nun drohende Abstieg einer breiter gewordenen Mittelschicht macht den Betroffenen aber verständlicherweise Angst und sorgt für sozialen Unmut in der Bevölke-rung. Die Politik scheint still zu stehen – die Planungsverlässlichkeit geht gegen Null, wenn jeden Tag ein neuer Politiker verhaftet wird. Das führt zu Verunsicherungen und Investitionen werden zurückgehalten. Aber eben diese Politik muss dringende Strukturreformen im Renten-, Sozial- und Steuersystem oder auch im Schulsystem durchführen. Eine wahre Herkulesaufgabe.

Wie könnte der Weg aus der Krise gelingen?
Meiner Meinung nach ist zunächst eine grundlegende Reinigung des gesamten politischen Systems notwendig. Die demokratischen Institutionen müssen gestärkt werden und der politischen Elite muss endlich klar sein, dass die Gerichtsbarkeit ihren juristischen Auftrag ernst nimmt. Die Staatsanwälte in Brasilien nehmen derzeit ihren Job in den Korruptionsermittlungen sehr genau. Die Botschaft ist: Egal welches politische Amt du bekleidest, du wirst zur Rechenschaft gezogen, wenn du dich einem Vergehen schuldig gemacht hast. Das war nicht immer so in Brasilien. Zur Sicherung der Demokratie müssen die Einkommensunterschiede zudem weiter abgebaut und der Abstieg der neuen Mittelschicht verhindert werden, um den sozialen Frieden zu sichern. Dabei sind Investitionen in das brasilianische Bildungssystem besonders wichtig, denn der wichtigste „Rohstoff“ Brasiliens sind mittel- und langfristig die lernhungrigen Menschen.

Im Rahmen der GGS-Studienreise haben Sie einige Unternehmen in Brasilien besucht, darunter auch Dependancen deutscher Firmen. Wie ist dort die Stimmung?
Die Stimmung ist durchwachsen. Einerseits haben die Unternehmen aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage mit niedrigen Auftragseingängen zu kämpfen. Kurzarbeit und Massenentlassungen sind die Folge. Das lässt auch den stärksten CEO vor Ort nicht kalt, wenn das brasilianische Unternehmen scheinbar am Abgrund steht und der deutsche Mutterkonzern fast hilflos zuschaut. Andererseits ist und bleibt Brasilien ein Markt mit enormen Potentialen, nicht zuletzt aufgrund der jungen Bevölkerung und den enormen Ressourcen des größten südamerikanischen Landes. Man stelle sich einfach einmal vor, die Rohstoffpreise würden wieder ihr altes Vorkrisen-Niveau erreichen. Viele deutsche Unternehmen, die es sich leisten können, bleiben deshalb hartnäckig, sind flexibel und geben den einmal gewonnenen Marktzugang nicht aufgrund dieser Wirtschaftskrise auf. Jetzt werden neue Formen gesucht den Markt zu bearbeiten.

Lohnt sich ein wirtschaftliches Engagement in Brasilien zukünftig wieder?
Die Euphorie wie vor zehn Jahren ist verflogen. Aber auf alle Fälle lohnt sich Brasilien. Nicht nur wieder, sondern immer noch. Natürlich sollte man genau überlegen, ob und wie man das Engagement in Brasilien angeht, aber die aktuelle Krise bietet wie jede Krise eine unternehmerische Chance des Neuanfangs und der strategischen Neuausrichtung.

Die German Graduate School of Management and Law ist eine staatlich anerkannte private Hochschule, die von der Dieter Schwarz Stiftung gefördert wird. Sie ist international ausgerichtet und arbeitet weltweit mit führenden Universitäten in Forschung und Lehre zusammen. Im Zentrum von Lehre und Forschung steht die Entwicklung der Unternehmerpersönlichkeit und die Gestaltung von Innovationsprozessen. Die German Graduate School of Management and Law konzentriert sich auf berufsbegleitende Studienprogramme für Führungstalente und bietet Weiterbildungsprogramme für Führungsteams an.

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