Bochumer Medizinstudenten trainieren Diagnosegespräch mit virtuellen Patienten

LWL-Pilotprojekt: Raumtänzer entwickelt Dialog-Software

Bochum/Rheda-Wiedenbrück – Patientengespräche erfordern hohe Sensibilität und tiefes Einfühlungsvermögen. Angehende Mediziner können sich diese Kompetenz bisher meist nur über Erfahrungen in der Praxis bei geeigneten Patienten aneignen. Digitale Lösungen könnten die Möglichkeiten bzgl. Schwere- und Schwierigkeitsgrade variabel erhöhen. In einem Pilotprojekt mit der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie (Ruhr-Universität Bochum) entwickeln die IT-Spezialisten von Raumtänzer jetzt eine Dialog-Software. „Ziel sind virtuelle digitale Trainingssimulationen mit Sprachinteraktion zur systematischen Ausbildung von Explorationstechniken und Diagnosestellung“, erklärt Prof. Dr. med. Georg Juckel. Bei der immersiven Visualisierung des Diagnosegesprächs kommen die Raumtänzer-Applikation FLUX VR und zukünftig auch FLUX 360° zum Einsatz.

Medizinisches Fachwissen bildet die Grundlage für eine präzise Diagnosestellung und für eine erfolgreiche Behandlung. Vertrauen und Empathie im Patientengespräch tragen wesentlich zum Gelingen der Behandlung bei. „Deshalb legen wir in der Lehre für unsere Medizinstudierenden einen Schwerpunkt auf den bestmöglichen Dialog mit den Patienten“, sagt Priv.-Doz. Dr. med. Paraskevi Mavrogiorgou. Weil emotional herausfordernde Situationen oft nicht immer mit „echten Patienten“ erfahren werden können, werden solche Gespräche in den Studierendengruppen ein stückweit simuliert. FLUX VR ermöglicht es jetzt, digital ein Patientengespräch vollständig in der virtuellen Realität abzubilden. So kann die Interaktion mit dem Patienten intensiv trainiert und automatisiert ausgewertet werden. „Das bewirkt einen Lerneffekt bei den Studierenden. Ein großer Mehrwert ist, dass verschiedenste Situationen und Krankheitsbilder erlebt werden können, ohne dass reale Patienten hierfür in der Klinik anwesend sind oder bereit sind, am Unterricht teilzunehmen“, so Prof. Juckel. Und die Studierenden müssen sich nicht sorgen, „etwas Dummes“ zu sagen oder falsche Diagnosen zu treffen.

Bis zu zehn Trainierende
„Aktuell werden die VR-Brillen Oculus Quest 1 sowie Oculus Quest 2 und der Desktop Computer als Endgerät unterstützt“, berichtet Christian Terhechte von Raumtänzer. „Geplant ist eine internetbasierten Web-Version, um auch Tele-Trainings von zu Hause zu ermöglichen.“ So könne neben Inhalten auch das Interaktionsverhalten der Studierenden in Analysen mit einbezogen werden. Außerdem soll eine möglichst einfache Nutzung die Hemmschwelle zur virtuellen Welt senken. „Im Labor der Bochumer Unipsychiatrie haben wir bereits VR-Stationen eingerichtet, in denen bis zu zehn Studierende gleichzeitig ein immersives Training – also ein Eintauchen in die virtuelle Umgebung – mit einer VR-Brille absolvieren können“, beschreibt Prof. Juckel.

Spezifische Patientenprofile und Dialoginhalte
Neben der Visualisierung bestand eine Hauptaufgabe der IT-Spezialisten darin, ein Trainings-Management-System (TMS) anzulegen und dieses über einen zentralen Server zu verwalten. „Wir können im TMS spezifische Patientenprofile erstellen und alle Dialoginhalte definieren“, erklärt Priv.-Doz. Mavrogiorgou. Aufzeichnungen der Interaktionen zwischen Trainierenden und den simulierten Patienten werden gespeichert und stehen jederzeit zur gemeinsamen Nachbesprechung zur Verfügung. Darüber hinaus können Lehrende alle Dialoge live über ein Chat-Interface verfolgen.

Zwei Workstations in Bochum installiert
Der Zeitplan ist ambitioniert: „Aktuell ist das TMS auf zwei Workstations vor Ort in Bochum installiert und mit der entsprechenden Netzwerk-Infrastruktur verbunden“, so Terhechte. Im Rahmen der Evaluierung mit Studierenden im Wintersemester 2021 wird die Lösung weiterentwickelt. „Die neue FLUX 360°-Lösung ermöglicht dann auch das Training von zuhause und kann in vorhandene Lernplattformen angebunden werden“, blickt Terhechte in die Zukunft. Klare Vorteile wären: mehr Flexibilität der Studierenden, gleichzeitiges Lernen von Vielen und Entlastung der Labore sowie der Wegfall von Präsenz-Pflicht.

Verhalten systematisch analysieren
Außerdem wird das Diagnosetraining um weitere Inhalte erweitert werden: persönliche Biographie, Anamnese und verschiedene diagnostische Tools können hinterlegt werden. Eine Kernkompetenz der RUB-Psychiatrie ist die Einbeziehung weiterer Aspekte, insbesondere der Verhaltensanalyse (Mimik, Körperhaltung, Sprechweise, Blickverhalten, etc.). Auch die Patienten in der Trainingssimulation können quasi authentische Verhaltensweisen zeigen, die sich über solche Parameter kontrollieren lassen. So kann passend zu dem Krankheitsbild des Patienten z.B. die Mimik, Körperhaltung und Gestikulation eingestellt werden. Auch die Atemfrequenz, Blinzeln- Frequenz und ein Zittern des Patienten könnten wesentliche Indikatoren sein, die in dem Training simuliert werden könnten.

Für die gemeinsame Reflexion wäre später auch die biometrische Erfassung der Trainierenden denkbar. Dazu müssten entsprechende Indikatoren während des Diagnosetrainings erhoben werden. Einfache Indikatoren wären dabei: Komplexität der Sprache, Länge der Fragen bzw. Sätze, Geschwindigkeit und Lautstärke, körperliche Zuwendung zum Patienten, Blickkontakte, Umfang und Art der Gestik.

Raumtänzer schafft individuelle VR-Lösungen
Die VR-Spezialisten von Raumtänzer aus Rheda-Wiedenbrück arbeiten seit mehr als sechs Jahren an Anwendungen für die Bereiche Kommunikation, Präsentation und Interaktion. Aus universitärem Kontext, der Forschung und Lehre können die Raumtänzer auf über 20 Jahren Erfahrung im Bereich VR und Avatare aufbauen.

Die inhouse entwickelte Software FLUX VR baut auf der Basis-Software FLUX Suite auf und wird jeweils individuell am Bedarf der Projektpartner ausgerichtet. „Anfang 2021 hat Raumtänzer FLUX 360° als einen virtuellen Präsentations- und Showroom an den Start gebracht“, ergänzt Terhechte. „Damit können Schulungen und Präsentationen in der erweiterten Realität abgebildet werden.“

Das 2017 ausgegründete Start-up Raumtänzer war 2014 als Spin-off an der Universität Bielefeld gestartet. Aktuell sind 17 Mitarbeiter im Unternehmen beschäftigt. Im Kerngeschäft werden am ostwestfälischen Standort Rheda-Wiedenbrück Softwarelösungen für Augmented (AR) und Virtual Reality (VR) entwickelt. Die beiden Geschäftsführer Prof. Dr. Thies Pfeiffer und Christian Terhechte entwickeln seit mehr als 20 Jahren im Bereich AR & VR. Im Herbst 2019 hatte sich Trivago-Gründer Rolf Schrömgens an einer Finanzierungsrunde beteiligt. Hauptziele sind der Ausbau und die Weiterentwicklung der modularen Standard-Software „FLUX Suite“. Damit können Unternehmen sehr einfach eigene Inhalte (Videos, CAD-Animationen etc.) für AR- und VR-Anwendungen aufbereiten.

Firmenkontakt
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33378 Rheda-Wiedenbrück
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Bildquelle: Simon Vanscheidt/LWL