Als der Zirkus vor 60 Jahren ins Rheinland kam

Der fotografische Nachlass von Heinz Neumärker wird nun posthum durch seinen Sohn veröffentlicht

„Ohne Vorstellung. Circusfotografien von 1950 bis 1970“ lautet der Titel eines bemerkenswerten Bildbandes, der im April 2023 erscheint. Er stellt posthum das Werk eines bislang unbekannten Fotografen vor, der sich zugleich einem ungewöhnlichen Genre widmete: Der Wahl-Leverkusener Heinz Neumärker (1935 – 2017) hat 50 Jahre lang, von den 1950ern bis in die späten 2000er Jahre, vornehmlich im Rheinland den Zirkus fotografiert. Sechs Jahre nach seinem Tod publiziert nun dessen Sohn Carsten Neumärker eine Auswahl von 121 Motiven aus dem rund 200.000 Fotografien umfassenden Nachlass. Wie der Titel des Buches verrät, zeigt die von Carsten Neumärker zusammengetragene Auswahl nicht den Glanz in der Manege, sondern ausschließlich das, was um sie herum passierte.

In Breslau geboren, kam Heinz Neumärker nach dem Krieg als Flüchtling ins Rheinland und begann 1949 in Leverkusen seine berufliche Laufbahn als Angestellter. Er war demzufolge kein professioneller Fotograf, doch er war ein Fan des Zirkus und der Fotografie gleichermaßen. Insbesondere während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, also vor dem Siegeszug des Fernsehens, erlebte der Zirkus neben dem Kino in Westeuropa seine Blütezeit. Er brachte Sensationen, Zerstreuung und ein bisschen die große weite Welt in die teils noch von Kriegszerstörung und Wiederaufbau geprägten kleineren und größeren Städte: Sarrasani, Krone und Hagenbeck waren die glanzvollen Namen. Wie ein Groupie reiste Heinz Neumärker innerhalb des für ihn erreichbaren Radius den Schaustellen nach und hielt mit der Kamera vor allem das fest, was wir heutzutage als „Backstagebereich“ bezeichnen würden: Der Transport der Zirkuswagen mit der Bundesbahn, das Ausladen der Tiere, der Aufbau des Zeltes, ausgeführt von der Muskelarbeit der Mitreisenden, sind nur einige der Themen, die die Bildfolge chronologisch von der Ankunft des Zirkus in einer Stadt bis zum Beginn der Vorstellung erzählt. Dabei widmen sich umfangreiche Bildstrecken detailreich der Architektur, den Tieren und den Menschen. Es ist davon auszugehen, dass kein anderer Fotograf sich jemals so nachhaltig diesem Spezialthema gewidmet hat. Die Vorgehensweise von Heinz Neumärker erinnert an niemand geringere als Bernd und Hilla Becher, die ihr Sujet der Kohlezechen und Industrieanlagen genauso akribisch und kein Detail auslassend in ihren Bildsequenzen in sachlich dokumentarischem Stil für die Nachwelt festgehalten haben. Dabei steht der Heinz Neumärker in seiner fotografischen Position vielleicht zwischen der liebevollen Annäherungen von Chargesheimer an die Nachkriegsgeneration und dem präzisen Erfassen von Situationen eines Henri Cartier-Bresson. Die Bilder erzählen zugleich ein Stück heutzutage verschwundene Kulturgeschichte.

Zu Lebzeiten von Heinz Neumärker wurden nur wenige Motive des riesigen Konvolutes publiziert. Das eine oder andere Bild hatte der Fotograf mal zum Abdruck in einer Fachzeitung für Zirkusfreunde freigegeben. Offensichtlich hatte Heinz Neumärker für sich selber fotografiert, um sein persönliches Zirkusarchiv zu füllen, das bei seinem Ableben neben den Fotografien auch eine Bibliothek von ca. 1000 Bänden zum Thema und eine umfangreiche Sammlung von Programmheften, Zeitungsartikeln, Fachmagazinen und Plakate umfasste. Nun sieht der Sohn, studierter Kunsthistoriker, seine Aufgabe darin, diesen fotografischen Schatz zu heben. Zu erwähnen wäre noch, dass der bekannte Fotohistoriker Klaus Honnef und Urs Odermatt einführende Texte zu dem Bildband beigesteuert haben. Urs Odermatt ist der Sohn des Schweizer Fotografen Arnold Odermatt, der ebenfalls das Oeuvre des Vaters veröffentlichte und bekannt machte.

252 Seiten SW, 31x31cm, Hardcover, Fadenheftung, Leinen mit 121 Abbildungen, Digitaldruck auf Arctic Volume 150gr, fast zweieinhalb Kilo schwer, EUR 78,00, erscheint am 14. April 2023,

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